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Vom Begriff der Selbstregulierung


Exkurs: Annäherung an die Kritik der Politischen Ökonomie anhand des Opus Magnus der Konspiration Kluge/Negt: Geschichte und Eigensinn (FfM 1981).*[Grzonka 2001]

Die begriffsgeschichtliche(1)Begriffsgeschichte nach Reinhard Kosellek. Diese hat im Unterschied zur Etymologie, die Formwandel und Gebrauch der Worte fokussiert, die Entwicklung von Bedeutung und Funktion derselben zum Gegenstand: Begriffe sind Repräsentationen. Vgl. entsprechend das Verhältnis von Wort und Begriff: Das ´Wort ist das pure Zeichen für etwas, während der ´Begriff das aktive Moment der Verarbeitung, das Begreifen des Zeichens impliziert. Wie die Verarbeitung geschieht, man könnte auch sagen Aneignung, ist abhängig von spezifischen Faktoren, die individuell, gesellschaftlich und kulturell variieren. Untersuchung von ´Selbstregulierung` wäre angesichts seiner widersprüchlichen Kontexte in Geschichte und Gegenwart eine interessante Aufgabe.
Eine zentrale Stellung nimmt der Begriff im Wirtschaftsliberalismus ein, wo er von dem englischen Ökonomen und Philosophen Adam Smith (1723-1790) als Eigenschaft des Freien Marktes geprägt wurde. Diese sei nach Smith der natürliche Garant für die Vielfalt des Angebotes, Vorherrschaft und Monopolbildung auf einem Freien Markt nicht möglich. Die Entwicklung des internets als weltumspannendem Kommunikationsnetz, die Erschließung des bislang größtvorstellbaren Marktes - des Weltmarktes - und die mit diesen Entwicklungen einhergehenden Veränderungen der individuellen Lebenswelten im auslaufenden 20. Jahrhundert heben Smiths Begriff aus dem lokalen in den globalen Kontext. Er bleibt verblüffend vielerorts postuliert als natürliche Gesetzmäßigkeit des freien markwirtschaftlichen Systems(2), während die Prämissen zur Selbstregulierung wie Transparenz und der daraus resultierende Wettbewerb, den Smith auf dem lokalen Markt(-platz) in seiner Heimatstadt Glasgow seinerzeit richtig beobachtet hat, auf globaler Ebene nicht mehr vorhanden sind.

Anders gelagert ist der Begriff, den Oskar Negt und Alexander Kluge im zweiten Kapitel von Geschichte und Eigensinn entwickeln: Selbstregulierung als "Wesenseigenschaft, die die Menschen für sich besitzen"(3). read allDer Gegenstand ihrer Betrachtung ist "die Natur der Zellen, der Haut, der Körper, des Hirnes, der fünf Sinne, der darauf aufgebauten gesellschaftlichen Organe: Lieben, Wissen, Trauern, Erinnern, Familiensinn, Hunger nach Sinn, die gesellschaftlichen Augen, die kollektiven Aufmerksamkeiten."(4)

Organe wie Gehirn und Zellen werden gleichermaßen als menschliche Eigenschaften betrachtet wie die Sinne des Menschen, der visuelle Sinn genauso wie das Lieben und das Streben nach Sinn. Differenziert werden zwei Naturen: eine erste und eine zweite Natur des Menschen.

Die erste Natur sei die Vorgesellschaftliche. Gemeint ist die unmittelbare Biologie, die Summe der originären Organe, bzw. Eigenschaften, mit denen ein Mensch geboren wird, bevor sie unter den Bedingungen der Umwelt geprägt werden. Die zweite Natur des Menschen seien die gesellschaftlichen Eigenschaften, d.h. die Modifizierung der ersten Natur unter den Bedingungen der Gesellschaft: "Wie erst die Musik den musikalischen Sinn des Menschen erweckt, wie für das unmusikalische Ohr die schönste Musik keinen Sinn hat, (kein) Gegenstand ist, weil mein Gegenstand nur die Betätigung einer meiner Wesenskräfte sein kann, also nur so für mich sein kann, wie meine Wesenskraft als subjektive Fähigkeit für sich ist, weil der Sinn des Gegenstandes für mich, nur Sinn für einen ihm entsprechenden Gegenstand hat, gerade so weit geht als mein Sinn geht, darum sind die Sinne des gesellschaftlichen Menschen andere Sinne, als die des ungesellschaftlichen ( ... )." (6)Karl Marx, Aneignung der menschlichen Wirklichkeit aus: Nationalökonomie und Philosophie; in: Peter Sloterdijk (Hg.), Marx. Ausgewählt und vorgestellt von Oskar Negt. München 1998, S. 82 f

Die Modifizierung beginnt gewöhnlich mit dem Moment der Geburt. Der neugeborene Mensch besitzt beispielsweise inform der Anlagen seines Sprachapparates die Eigenschaft, alle Phoneme zu bilden. Er tut es auch zunächst. Es ist eine Eigenschaft aus der ersten Natur. Mit dem Erlernen der Muttersprache verändert sich dies dahingehend, als daß Phoneme, die in der Muttersprache nicht vorkommen, aus dem aktiven Gebrauch verschwinden und das Formen derselben verlernt wird. Aus der zunehmend begrenzten Auswahl von Phonemen werden zunächst Worte imitierend gebildet, später deren Bedeutung erlernt. Das Verbalisieren ist eine Eigenschaft der zweiten Natur. Der Sprachapparat an sich ist ein Element der ersten Natur. Die Entstehung der zweiten Natur stellt hier eine Reduktion dar, keine Erweiterung.

Der bei Negt/Kluge gebrauchte Begriff der menschlichen Natureigenschaft distanziert sich von einer trennenden Abstraktion des Individuums von der Gesellschaft: "Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung - erscheint sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit anderen zugleich vollbrachten Lebensäußerung - ist daher eine Äußerung und Betätigung des gesellschaftlichen Lebens."(7)

Das bedeutet nicht, daß die zweite Natur - wozu möglicherweise die Nummerierung versucht anzunehmen - im Verlauf des individuellen Lebens die erste Natur zunehmend überlagere, ersetze oder vollständig modifiziere. Ebensowenig ist es denkbar, daß bei einem menschlichen Individuum sich keine zweite Natur ausbilde. Vielmehr bestehen beide Naturen in lebenslanger Wechselwirkung zueinander "und zwar so, daß beide Naturen auf die Basis und den Aufbau, auf originäre Natur des Menschen und auf die gesellschaftlichen Organe gleichermaßen die ganze Zeit über einwirken."(8)

Der Gesellschaftsbegriff bezieht sich auf einen der modernen Gesellschaft, an dessen Anfang die feudale Ständegesellschaft steht. Aus ihr entsteht in einer Periode der politischen Revolutionen, deren Beginn für Europa mit der Französischen Revolution markiert wird, die bürgerliche Gesellschaft: Das den sozialen Status bestimmende Merkmal der Geburt wird durch das moderne Prinzip der Leistung und des Berufes abgelöst. Die bürgerliche Gesellschaft wird durch die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert zur Klassengesellschaft; der Besitz, die ökonomische Lage und die Stellung in der Produktion bestimmen mit dem sozialen Prestige die Schichtung der Gesellschaft.(9)T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983. S. 255

Das ist eines der ´Oben und Unten`, von denen bei Kluge und Negt die Rede ist.

In den Anfängen der bürgerlichen Epoche entsteht in der Übertragung aufklärerischer Ideen auf Wirtschaft und Gesellschaft die Klassische Nationalökonomie als Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie. Adam Smith veröffentlicht 1776 theoriegrundlagenbildend "An Inquiry into the Nature and the Wealth of Nations" - "Der Wohlstand der Nationen“ bzw. „Der Reichtum der Nationen“. Dies ist abhängig vom Erscheinungsdatum der deutschen Übersetzung. Es deutet sich darin aber auch ein Bedeutungswandel an, der sich nationsübergreifend im Begriff des ´wealth of nations` vollzogen hat. Smith sieht in der Arbeit und der Verwirklichung der Eigeninteressen des Einzelnen die Grundlage zum Wohlstand des Gemeinwesens, als Basis der Produktivität den menschlichen Tauschtrieb und die Arbeitsteilung, als Mittel den freien Handel: "Jeder glaubt, nur sein eigenes Interesse zu verfolgen, tatsächlich erfährt so aber indirekt auch das Gemeinwohl der Volkswirtschaft die beste Förderung. Der einzelne wird dabei von einer unsichtbaren Hand geleitet, um ein Ziel zu verfolgen, das er keineswegs intendiert hat."

Er fußt dabei auf dem 1762 von Jean - Jaques Rousseau (1712 - 1778) entworfenen Ideal der demokratischen Gesellschaft(10): "Du Contract Social où Principes du Drôit Politique" - " Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzip des Staatsrechts". Darin geht es um das Prinzip der Volkssouveränität und der vertragstheoretischen Definition der Herrschaft zwischen Regierenden und Regierten: Da sich Menschen zur Erhaltung ihrer Freiheit und Gleichheit zum Staat zusammenschlössen, ruhe die Staatsgewalt beim Volk, die Regierenden seien seine Funktionäre, Gesetze bedürften der Zustimmung aller. Die Volkssouveränität sei absolut, unteilbar, unveräußerlich und bekunde sich in der ´volonté général (dem allgemeinen Willen der Nation), ( ... ) Freiheit existiere nur mit der Gleichheit, d. h. in der Anerkennung des allgemeinen Willens. Dieser sei nicht identisch mit der ´volonté de tous (der Summe der egoistischen Einzelwillen), er könne auch von einer Minderheit für die Allgemeinheit vertreten werden.

Die Fundamente der bürgerlichen Tradition des ökonomischen Denkens differenzieren also im Begriff des ´Gemeinwohls, ´Volkswohlstands, oder auch ´Nationalreichtums` von der Summe der Einzelinteressen und des Privateigentums. Es geht vielmehr um den Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Wohl und privater Reichtumsbildung: Zielsetzung war die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit innerhalb eines Gemeinwesens nach dem Prinzip der Selbstregulierung in Abgrenzung zu spezifischen Fremdregulierungen innerhalb des Absolutismus.

Der Realität des ´volonté de tous gegenüber der ´volonté général stand Rousseau selbst kritisch gegenüber: "Comment est-il possible de s´enrichir sans contribuer à appauvrir autrui?"(11) - wie ist es möglich, sich zu bereichern, ohne dazu beizutragen, die Umgebung ärmer zu machen ?

Es ist also nicht der schiere Eigennutz, der im Zentrum der Klassischen Nationalökonomie steht. Dieser liegt allerdings zweifelsohne dem neoliberalen Denken zugrunde, das Politik und Ökonomie der Gegenwart kennzeichnet. Die Auffassung, gegenwärtig sei die deutsche Gesellschaft auf dem Höhepunkt des Fortschritts, da zum Beispiel die Menschen in ihrer Geschichte noch nie sowenig arbeiten müßten, wie heute, ist keine Einzelmeinung. Diese Auffassung ignoriert aber die Lebenswirklichkeit eines beträchtlichen Teils der Allgemeinheit, nämlich mindestens die von derzeit - im Jahr 2001 - 9,2% registrierten Arbeitslosen. Die chronische Massenarbeitslosigkeit der Arbeitsgesellschaft ist neben vielem anderen, wie der terminativen Ausbeutung ökologischer Ressourcen, offensichtlicher Indikator dafür, daß sich unsere Gesellschaft in der Tat in einem Krisenzustand[12) befindet.

Die Verfügung über lebendige Arbeitskraft und Arbeitslosigkeit - also schlicht: Arbeitsplätze - bedeutet, Macht innezuhaben. Eine Machtposition an sich impliziert grundsätzlich den Diskurs, der zur Erhaltung ihrer Herrschaft dient.

In dem Ausmaß, in dem in der ´westlichen Zivilisation die gesellschaftliche Reichtumsproduktion und die menschliche Verfügungsgewalt über die Objektwelt zunimmt, wachse auch der Wohlstand und, der Prämisse des Liberalismus folgend, die Autonomie des Individuums - sollte man annehmen. Zu konstatieren ist, daß u. a. unter dem Schlagwort ´Flexibilität in den Lebenswelten der Menschen hingegen der Anteil der Fremdregulierung durch ´Marktgesetz` und Kapital-Logik, die als naturgegeben postuliert werden wächst.

Die Quintessenz der Modernitätsideologie liegt doch in der Annahme, der Mensch erlange fortschreitend Herrschaft über die Natur bishin zur absoluten Macht, immanent das Prinzip der Kontrolle oder auch Kommandogewalt. Wie verhält sich das Ideal des modernen bindungsfreien, universell einsetzbaren und sich selbst funktionalisierenden Menschen zu seiner Natur?

Ein arbeitendes Zusammengesetztes muß notwendig Rücksicht nehmen auf die elementare Natur, von der es sich abgeleitet hat, durch die sie sich ausschließlich äußern kann und die ihre Bedingung ist.(13) Die Eigenschaften der zweiten Natur sind zweifelsohne entscheidend vom jüngsten Fortschritt der westlichen Gesellschaft, der kapitalistischen Epoche geprägt.(14)Vergleiche beispielsweise die Veränderungen in der visuellen Rezeption: Die Augen folgen dem Sinn des Habens, statt der Gegenstände selbst sehen sie den materiellen Wert, der ihnen inne ist. Eine andere Art der Anpassung des Sehens an veränderte äußere Bedingungen zeigt Wilhelm Schievelbusch in seiner Untersuchung der Wirkung des im 19. Jahrhundert neuen Fortbewegungsmittels Eisenbahn auf Reisende: die Entstehung des panoramatischen Blicks. (Wilhelm Schievelbusch, Die Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. FfM 1989) Eine verhältnismäßig geringe Variation dagegen weisen die Organe aus der ersten Natur in Bezug auf gesellschaftliche Veränderungen auf: Wie Hirn und Zellen in ihrer spezifischen Struktur arbeiten, ist seit Tausenden von Jahren nahezu unverändert. Die Eigenschaften des Menschen aus der Ersten Natur verhalten sich gerade in Bezug auf die Kategorie der Kontrolle widersprüchlich zu seinen Eigenschaften aus der Zweiten Natur.(15)

Ein anderes ´Oben und Unten`, das bei Kluge/Negt thematisiert wird, ist das kulturell-gesellschaftliche Organ der Hierarchie innerhalb des Individuums, in dessen physischem Zusammenhang das Gehirn und in dessen psychischem Zusammenhang die Ratio an höchster resp. oberster Stelle stehe. Der erwerbstätige Mensch, so sieht es aus, reguliert sich von oben nach unten: Er paßt seinen Lebensrythmus den Konditionen seines Arbeitsplatzes an, eliminiert Störungen wie Müdigkeit, Motivationslosigkeit, auch Krankheit, durch bewußte Selbstdisziplin bzw. Umverteilung der Konflikte. Tatsächlich ist dies nicht omnipotent möglich. Können Konflikte in der Hierarchie des psychischen Aufbaus durch Umverteilung nicht mehr gelöst werden, entäußern sie sich in der Physis. Die Dissoziation wird zugunsten der Zellen entschieden, äußert sich in psychosomatischer Krankheit, Kreislaufstörung, Kollaps. Das heißt, die Zellen entfalten ihre originäre Eigentätigkeit, aber nicht im Sinne des gesellschaftlichen Menschen. Es ist keine Regulation von oben nach unten mehr möglich.(16)

Die Zelle ist die einfachste Natureigenschaft des Menschen. Ihre komplex eigentätige Arbeitsweise ist als "soviel innen wie möglich, sowenig außen wie nötig" charakterisiert. Die Zelle schottet ihre Eigentätigkeit als einzelne zum ganzen Menschen und zur Außenwelt hin mehrfach ab. Die Kommandogewalt des Hirns erreicht allenfalls Zellverbände - die einzelne Zelle entzieht sich ihrer. Das Individuum kann bewußt nur Muskeln als Ganzes in Bewegung setzen, aber nicht die einzelne Zelle aus ihrer Eigenregulation lösen und kontrollieren.(17)

Die Erforschung der physischen Leistungsfähigkeit des Menschen bestätigt dies. Es existieren autonom geschützte Reserven der Arbeitskraft, die durch Willensanstrengung nicht abrufbar sind. Gemeint sind extraordinäre Kräfte wie beispielsweise die einer Mutter, deren Kind unter ein Auto geriet und die das drei Zentner schwere Fahrzeug hochhob und ihr Kind befreite. Wären diese Kräfte bewußt abrufbar, würden sie die materielle Gesamtproduktivität der Gesellschaft doch enorm steigern und vielleicht den "produktionsbedingten" Ersatz der menschlichen Arbeitskraft durch Maschinen an vielen Stellen überflüssig machen.

Unter Hitler wurden unter dem Stichwort "Verschrottung durch Arbeit" gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in Konzentrationslagern, die nicht in erster Linie dem Zweck der bloßen Vernichtung dienten, in großem Umfang Menschenexperimente zur Erforschung der freisetzbaren Arbeitskraft durchgeführt. Unter Extremstbedingungen, d. h. unter Bedingungen, die über die erfahrungsgemäße Leistungsgrenze weit hinausgingen, arbeiteten die Insassen, die Tunnelbau und Rüstungsarbeit betreiben mußten, sich buchstäblich zu Tode, ohne daß sie ihre wirkliche physiologische Leistungsfähigkeit ausgeschöpft hätten. Die Häftlinge starben hier nicht an der Rebellion der Zellen, sondern an deren Mißbrauch und Vernichtung.(18)

Die Zellverbände sind bis an die individuelle Leistungsgrenze der Kommandogewalt des Individuums und des Produktionsprozesses unterstellt. Bewußte Absicht und äußerer Zwang erreichen die Kraftreserven jenseits dieser Leistungsgrenze nicht. Es ist ein Zustand des ganzen Menschen, der den selbstregulierenden Schutz dieser Reserve durchbricht(19): Sie ist der Rationalität nicht zugänglich.

In diesem Zusammenhang ist Selbstregulierung etwas Spezifisches, das in einem organischen Ganzen einen Charakter annimmt, der sich zu jedem höher gearteten organischen Ganzen hermetisch, d. h. unübersetzbar eigen verhält und erst über Vermittlung und Chiffrenwechsel in Verbindung gerät.(20)

Das Hirn selbst, das komplexeste Organ unter den menschlichen Natureigenschaften arbeitet nicht nach den Prinzipien der Rationalität: "Weder arbeitet es von seiner Natur oder Einrichtung her logisch noch teleologisch (zielbezogen), noch theologisch (mythenbildend), noch macht es die gewaltigen Pausen wirklich, die es scheinbar macht, wenn es diszipliniert oder nach Arbeitsanweisung funktioniert. Es befindet sich vielmehr, gerade wenn es nach den Kriterien eines unternehmerisch geführten Betriebes "nichts tut" auf höchster Arbeitsstufe, während längerdauernder Zwang zum Nichtstun es lähmt. Wenn einer "gar nichts" denkt, zeigt das Enzephalogramm weißes Rauschen: hohe Aktivität."(21)

Seiner Art und Weise zu arbeiten nach ist das Gehirn Selbsttätigkeit an sich. Das Wie der Verarbeitung geschieht nach ihm immanenten spezifischen Gesetzen, die sich weder um die Außenwelt noch um das Übrige im Menschen kümmern, noch mit ihm kongruent sind. Erst wenn diese Eigentätigkeit von einigen Millionen von Synapsen gemeinsam gelebt wird, erweist es sich, daß es zugleich in der Lage ist, Funktionen zu erfüllen.(22)

Die Eigentätigkeit des Hirns wird an den Prozessen des Vergessens und Erinnerns deutlich: man kann auf Teile der Erinnerung durch Gedächtnistraining rational einwirken, dieses aber nicht in seiner Gänze kontrollieren. Ebensowenig ist das Vergessen bewußt steuerbar.(23)"Wir bemühen uns ja oft vergebens gerade gegen Erinnerungen mit größter Unlust." Sigm. Freud, Briefe an Wilhelm Fleiß. Aus den Anfängen der Psychoanalyse 1887-1907, Frankfurt am Main 1962, S. 153

Diese menschlichen Vermögen regulieren sich selbst nach eigenen Gesetzen. Selbstregulierung ist hier eine Ordnung, die weder nach den Gesetzen der Natur noch nach denen des Bewußtseins noch allein nach den Gesetzen des Unterbewußtseins stattfindet: Es ist eine kooperative Ordnung.

Selbstregulierung ist im Sinne Kluges und Negts ein auf Eigensinn basierendes natürliches Ordnungsprinzip, das sich zu einer auf Kommandogewalt basierenden, sich durch Leitungsnetze aufrechterhaltenden Ordnung diametral verhält. Selbstregulierung bedeutet im Sinne der Autoren die vollständige Anerkennung aller wirkenden Kräfte. Sie formulieren nicht einen einzigen Begriff dessen, sondern verschiedene, die jeweils eigenen Bewegungsgesetzen folgen. Auch das Verhältnis verschiedener Eigentätigkeiten zueinander, das Dazwischen ist Selbstregulierung. So wird die Selbstregulierung als Kategorie des Zusammenhanges bezeichnet: "Selbstregulierungen bilden (...) Gravitationsfelder, die von selbst die Tendenz haben, Zusammenhänge nach materieller Vollständigkeit nach eigenem Prinzip herzustellen. Gelungene Selbstregulierung - dies ist nicht Freilassung, sondern operativer Prozess - übt zersetzende Kraft aus auf Leitungsnetze. In dieser Hinsicht sind selbstregulierende Prozesse die lebendige Kritik an Anpassung und Kommandogewalt."(24) Der Begriff der Selbtregulierung wird nachvollziehbar als Kategorie des Zusammenhangs, indem vom Zusammenhang ausgehende jeweilige Eigentätigkeit bezeichnet wird. Auch als Kategorie des Zusammenhangs von lebendiger Arbeit, in dem die Aufmerksamkeit auf den darin enthaltenen subjektiven Eigensinn gerichtet wird,(25) ist der Begriff verstehbar.

"Als Kategorie des gesellschaftlichen Zusammenhanges schließlich richtet sie den Blick auf die eigentätigen Kräfte, die die Gravitation zwischen toter Arbeit und lebendigen Arbeiten immer dann ausmachen, wenn der Zusammenhang lebendiger Arbeit zu sich selbst findet, den Ausschlag gibt."

Der Kern, der im Kluge/Negtschen Begriff der Selbstregulierung steckt, ist die Kritik am Wahrheitsgehalt der Naturgesetzlichkeit der Kapital-Logik. Dies wird am Beispiel der vermeintlichen Selbstregulation von Nachfrage und Angebot bzw. Struktur des Marktes deutlich. Nicht die Nachfrage der Verbraucher bestimmt die zunehmende Automatisierung der Produktion, sondern Bilanzen von Unternehmen, die unter monetären Gesichtspunkten erstellt werden. Innerhalb der Vielzahl der Bedürfnisse, die das Individuum in der postmodernen Gesellschaft hat, läßt sich kaum noch differenzieren zwischen denen, die ihren Ursprung im Individuum selbst haben und denen, die von außen, vom Markt her Eingang in die Bedürfniswelt des Individuums finden.

Der Vorstellung einer Gesellschaft, die nicht auf den Prinzipien der Kapital-Logik basiert, liegt das optimistische Bild eines Menschen zugrunde, der seinen Vorteil nicht auf Kosten der Allgemeinheit durchsetzt. Dies Menschenbild, das im Gegensatz zur Kapital-Logik einer sozio-kulturellen Logik folgt, erscheint mir allerdings sehr idealistisch und wenig realistisch.
Der Schlüsselbegriff ist verinnerlichte, empfundene Verantwortlichkeit des Individuums für die Belange des es umgebenden gesellschaftlichen Gesamtzusammenhanges, die das Fundament einer der Kapital-Logik alternativen Gesellschaftsordnung wäre.

Ich war überrascht zu erfahren, daß folgende, sinnentfremdet zur Floskel geronnene Aussage ursprünglich dem Artikel 14, Absatz 2 der deutschen Verfassung entstammt: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."

Die Definition der gesellschaftlich reputierten Arbeit bestimmt das Verhältnis des Individuums zur Allgemeinheit und dadurch den Gebrauch seines Eigentums. Mit der Forderung nach Erweiterung, Vertiefung und Vervielfältigung der gesellschaftlich anerkannten Formen der Arbeit (bzw. des Arbeitsbegriffs, der an die bloße Mehrwertproduktion gekoppelt ist) wird ein weiterer Ansatz zu einer Alternative der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft geliefert, nämlich der der Etablierung von Arbeit, die direkt der Eigenproduktion und der Selbstverwirklichung dient: "Arbeit in Beziehungsverhältnissen, Pflege der Umwelt, der Künste, der Qualität des Zusammenlebens, also Tätigkeiten, die keinen Mehrwert schöpfen und nicht instrumentell rationalisierbar sind."(26)

Annariitta Grzonka 2001, Universität Bremen


(2) "System als Komplex von Elementen, die miteinander verbunden und voneinander abhängig sind und insofern eine strukturierte Ganzheit bilden; ein geordnetes Ganzes, dessen Teile nach bestimmten Regeln, Gesetzen oder Prinzipien ineinandergreifen." Aus: Anton Hügli / Poul Lübke (Hg.), Philosophielexikon. Hamburg 1997

(3) O. Negt / A. Kluge, Geschichte und Eigensinn. FfM 1981, Bd. 1, S. 41

  1. Ebd., S. 41

(6) Karl Marx, Aneignung der menschlichen Wirklichkeit aus: Nationalökonomie und Philosophie; in: Peter Sloterdijk (Hg.), Marx. Ausgewählt und vorgestellt von Oskar Negt. München 1998, S. 82 f

(7) Ebd. S. 79

(8) Geschichte und Eigensinn, Bd. 1, S. 41

(9) T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983. S. 255

(10) "Alle Menschen sind von natur aus frei (...) und besitzen (...) angeborene Rechte, nämlich das Recht auf Leben und Freiheit, dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten sowie Glück und Sicherheit anzustreben und zu erreichen."

(11) J.-J- Rousseau, Discours sur les Richesses, 1750

(12) Kluge/Negt sprechen auf S. 42 von der "fortgeschrittensten Krise der Gesellschaft"

(13) Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 42

(14) Vergleiche beispielsweise die Veränderungen in der visuellen Rezeption: Die Augen folgen dem Sinn des Habens, statt der Gegenstände selbst sehen sie den materiellen Wert, der ihnen inne ist. Eine andere Art der Anpassung des Sehens an veränderte äußere Bedingungen zeigt Wilhelm Schievelbusch in seiner Untersuchung der Wirkung des im 19. Jahrhundert neuen Fortbewegungsmittels Eisenbahn auf Reisende: die Entstehung des panoramatischen Blicks. (Wilhelm Schievelbusch, Die Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. FfM 1989)

(15) Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 42

(16) Ebd., S. 42f

(17) Ebd. S. 48

(18) Ebd. S. 43

(19) Ebd. S. 56

(20) Ebd. S. 48

(21) Ebd. S. 45

(22) Ebd. S. 46

(23) "Wir bemühen uns ja oft vergebens gerade gegen Erinnerungen mit größter Unlust." Sigm. Freud, Briefe an Wilhelm Fleiß. Aus den Anfängen der Psychoanalyse 1887-1907, Frankfurt am Main 1962, S. 153

(24) Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 65

(25) Ebd. S. 64

(26) Oskar Negt, Die Krise der Arbeitsgesellschaft in: Politik und Zeitgeschichte, B15/95, S. 9


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Actor Network Theory: Zugänge I


Felix Stalder - Actor Network Theory and Communication Networks: Toward Convergence(Toronto 1997)
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Felix Stalders Zugang zu ANT besteht im Wesentlichen aus drei Schritten: Kontextualisierung seines Zugangs zum Gegenstand (warum ANT?), (Er-)Klärung seines Gegenstandes (was ist ANT?) und schließlich Reflektion des Gegenstandes im Kontext benachbarter Theorien - hier erstens Systemtheorie und Abgrenzungsbegriff, zweitens Entstehung und Dynamik von Systemen und drittens Komplexität und Entstehung von Ordnung.

Im Folgenden werden kurz Stalders Auswahl zentraler Begriffe der Actor Network Theory und drei in Stalders Zugang relevante Differenzierungen von Netzwerkdynamik vorgestellt.

Die Actor Network Theory, in der Hauptsache zurückgehend auf Bruno Latour, John Law und Michel Callon, ist als Instrument entwickelt worden, Prozesse gesellschaftlichen Wandels verstehbar zu machen, ohne einerseits dem soziozentrischen oder andererseits dem technozentrischen Irrtum zu verfallen. Dieser besteht darin, technologische und gesellschaftliche Veränderungen ausschließlich entweder durch die eine oder die andere Brille zu betrachten: entweder Technik als gesellschaftliches Produkt zu begreifen, das determiniert sei durch „soziale Akteure“ oder `wiederum dem technischen Determinismus zu verfallen, der postuliert, gesellschaftlicher Wandel sei Folge technologischer Entwicklung.

„For Bruno Latour the Actor-Network-Theory attempts to overcome what he sees as the major shortfall of Modernism and Postmodernism: the slicing of a continious, ´hybrid reality into analytical domains. The epistemology of Modernism divided nature and society into two incommensurable poles. Nature was only observed, never man-made; whereas society was only made by humans. The two poles were indirectly connected by language, which allowed us to make stable references to either one of them. Postmodernism separated the middle ground, language, from both poles by declaring it autonomous. This autonomous domain has been described as free-floating signs (Baudrillard) or as self-referential texts and language games (Derrida). It is Latour´s goal to show that the separation introduced by Modernism and extended by Postmodernism is artificial. Because (technological) reality is ´simultaneously real, like nature, narrated, like discourse, and collective, like society he does not follow the clean divisions envisioned by Modernism and ( ... ) claimed that Modernity never happened, that ´We Have Never Been Modern`.“ (Stalder 1997)

Der Reintegration der separierten Sphären von Technik, Gesellschaft und Sprache, dem Lösen des „Gordischen Knotens“ dienen folgende zentrale Begriffe der Actor Network Theory: actor, black box, network, prescribtion, intermediary.

„Actors are entities that do things“.(Latour 1993)
Stalder hebt den Unterschied zwischen Latours und einer soziologischen Definition von Aktoren hervor: „Even in this most minimal definition, the main difference from the more conventional sociological definition of actors as ´social entities` is stressed: what actors are, whether social or technological entities, is less important, whereas the aspect of action, doing things is emphasized.“

„The distinction between humans and non-humans, embodied or disembodied skills, impersonation or ´machination`, are less interesting than the complete chain along which competences and actions are distributed.“ (Latour 1992)

´Aktor und im Unterschied dazu ´Aktant wird weiterhin definiert als „whatever acts or shifts action, action itself being defined by a list of performances through trials; from these performances are deduced a set of competences with which the actant is endowed. ( ... ) An actor is an actant endowed with a charakter.“ (Madeleine Akrich 1992)

„While actant is the thing itself in its unspecified ´nature`, actor comprises the thing and competences which are attached to it. The competences are negotiated in processes of trial (and error). For example, a coin as a piece of metal is an actant. Within the context of money-based economy, a valid coin has an attributed competence, it serves as a standart measure of value and mechanism for exchange, it becomes an actor. It is important to stress that actors have an independant reality outside the settings that turn them into actors that do particular things. In this sense they are simultaniously real like nature and collective like society.“ (Stalder 1997)

Eine weiterer Hinweis auf den Begriff actor findet sich in Latours Studie Science in Action, deren Gegenstand der Untersuchung die Entstehung naturwissenschaftlicher Texte und die darin enthaltenen Repräsentationen sind: „whoever and whatever is represented is an actant." (Latour 1987)

Latours Textanalyse hebt sich hierbei entscheident von der des frz. Poststrukturalismus ab: „Actor indicates that the elements represented in the text act, that they do particular things. Outside the text, the elements are actants, entities that have an independant reality. Inside the text, they become actors, entities that do things, hopefully those things the texts were written for. They act precisely because they are represented in the text. A text can be understood as a network of aligning heterogenous elements (people, other texts, equipment, procedures, institutions and more) to achieve a particular goal, which can be proving a scientific discovery, manufacturing a product, or introducing a new procedure. Each of these aligned elements has a reality outside the text. This reality outside the text allows enforcement of the meaning and of the strength of the text. For example, if microbes wouldn´t exist independantly of a scientific text, then representing them in such a text would be meaningless. ( ...) The more heterogenous elements a text or object is implicitly or explicitly able to allign, the more it becomes. A coin, for example, is able to mobilize the reputation of a whole national economy to simplify mundane transactions, such as buying a pack of cigarettes. If the coin cannot mobilize those elements because it is forged, or if the mobilized elements are weak, because the government is in discredit, the coin looses some or all its power, which resides its unquestioned value. A coin is an actor because it can mobilize a network of heterogenous allies to do things, to store and exchange value. In a valid coin this network of allies is tightly sealed and it is almost impossible to question the connections of those networks for an individual using the coins (and thus becoming a part of the network of the coins). A coin is in this sense a black box. “ (Stalder 1997)

Die Bezeichnung black box stammt ursprünglich aus der Kybernetik, wo sie einen Zusammenhang von Bauteilen in einer Maschine bezeichnet oder aber auch ein Bündel von Steuerungsbefehlen, die sehr komplex sein können, aber aufgrund ihrer Stabilität in eine geschlossene Einheit (Box) substituiert werden können. (Wiener, 1948)

„A black box contains that which no longer needs to be considered, those things whose contents have become a matter of indifference.“ (Michel Callon 1981)

Black boxes können physikalische Dinge als auch Abstrakta sein, Automaten wie Diskurse. Am Beispiel des Computers wird das black box Prinzip deutlich, am Beispiel der Objektivität liegt es ein wenig tiefer unter der Oberfläche – es geht um das Operieren mit geschlossenen Einheiten komplexer Zusammenhänge: „a black box, therefore, is any setting, that no matter how complex it is or how contested its history has been, is now so stable and certain that it can be treated as a fact where only the input and output counts.“ (Stalder 1997)

Die Stabilität einer black box ist beeinflußt durch den Aufwand oder auch die Kosten, die von ihrer Wiederöffnung verursacht werden: „This is not only determined by the social groups and procedures sealed into the black box, but also by the materials which are included. The media into which such a setting is sealed are a crucial element for understanding its overall dynamics. Turned into a black box, hardware tends to be very closed. It took, for example, an earthquake to open (literally and metaphorically) the black box of Interstate 880 in Oakland, CA and uncover the corruption and construction errors which it had enclosed. (...) Software, on the other hand, is constantly reopened and sealed again because of its fluidity and low production costs. This is the process of constantly questioning some elements in the black box (finding bugs) and trying to seal it again in a new up-grande.“ (Stalder 1997)

Umso geschlossener eine black box erscheint, desto stabiler sind die Netzwerke in ihr: „The more automatic and the blacker the box, the more it has to be accompanied by people.“ „To isolate a black box and conceptualize it with a trajectory of its own right means to presuppose as a given all the conditions that keep that box closed.“ (Latour 1987)

Stalder faßt mit einem Satz zusammen: eine black box enthält ein versiegeltes Netzwerk aus Personen und Dingen.

Der Begriff Netzwerk ist definiert als „Gruppe unspezifizierter Verhältnisse zwischen Wesenheiten, deren Natur unbestimmt ist.“ Ein Netzwerk verbindet zwei Systeme von Verbündeten miteinander: Menschen (jeder, der an der Entwicklung, Konstruktion, Distribution und Benutzung eines Artefaktes beteiligt ist; die Beschreibung eines solchen Systems führt zu einem „Soziogramm“) und Dinge (alle Gegenstände, die bereits involviert sind oder in das Netzwerk eingebracht werden, um Verbindungen zwischen Menschen zu schaffen. Die Beschreibung dieses Systems führt zu einem „Technogramm“).
Beide Systeme sind in einem Netzwerk hochgradig miteinander verbunden und voneinander abhängig, es ist daher nicht sinnvoll und führte zu verfälschenden Ergebnissen, analysierte man sie getrennt voneinander. Eine Veränderung in dem einen System zieht zwangsläufig Veränderungen in dem anderen System nach sich.

´Aktor und ´Netzwerk existieren nicht unabhängig voneinander: Ein Aktor kann ohne Netzwerk nicht handeln, ein Netzwerk ist kein Netzwerk ohne Aktoren. Sie beinflussen sich laufend wechselseitig. Michel Callon definiert das Verhältnis Aktor – Netzwerk wie folgt: „The actor network is reducible neither to an actor alone nor to a network. Like a network it is composed of a series of heterogeneous elements, animate and inanimate, that have been linked to one another for certain period of time. ... An actor network is simultaneously an actor whose activity is networking heterogeneous elements and a network that is able to redefine and transform what it is made of.“

Die Größe oder Wichtigkeit eines Aktors ist abhängig von der Größe des Netzwerkes, das sie/er/es steuert und die Größe eines Netzwerkes ist abhängig von der Anzahl der Aktoren, die es miteinander verbindet. Es gibt keinen strukturellen Unterschied zwischen großen oder kleinen Aktoren, zwischen einer Institution oder einem Individuum oder einem profanen Gegenstand wie einem Türöffner. Die Macht eines Aktors ist abhängig von der Position, die sie/er/es im Netzwerk einnimmt: „This simply means that the main differences between micro and macro actors is the size of the network they can bring into place for a particular goal, that is the number of actors they can arrange according to their objectives. These objectives can be a strategic choice of options, adaptive necessities or built-in properties of a certain piece of equipment. Properties of a setting, the fact that it makes certain things possible and others impossible, are called prescriptions.“ (Stalder 1997)

Eine Präskribtion, eine Vorschrift, eine Vorgabe ist die Definierung dessen, was den Aktoren erlaubt bzw. verboten ist – eine Eingrenzung des Handlungsspielraumes. Stalder nennt dies „the morality of a setting both negative (what is prescribed) and positive (what it permits). ( ... ) Several related concepts have been developed so far to ´read` a setting, to understand the constraints and forces which come to bear through a technological artifact, a procedure or a scientific discovery. The activity of the analyst is called describtion, which is the analysis of what the various actors in a setting are doing to one another. The opposite movement, inscribtion, is the activity of the engineer, inventor or manufacturer who make others do certain things. In the process of inscribtion, the properties of a setting are assembled bearing the mark of the actors aligned in the network which produces that setting. For the process of describtion one type of inscribtions are particularly helpful, texts. Texts which explain the object, be it in form of a manual, of critical reviews or others. The actor-network can be read in its texts not because it is made up of texts (in the Postmodern sense). It can be read as text because texts are often the preferred way in which actors align themselves into the network. The activity of inscribtions materializes in the prescribtions of any given object. ( ... ) For the aims of this paper it is not necessary to go into further details to define the different aspects of the scribting activities. It is more important to note that they are activities, the result of actors doing things, be it assembling a setting, be it using the setting or the analyst deconstructing the setting, e.g. opening the black box. All these activities shape the form and content of the product.“ (Stalder 1997) „The social can be read in the inscribtions that mark the intermediaries.“ (Michel Callon 1991)

Vermittler / Vermittlungen sind die Elemente, die die Aktoren mit dem Netzwerk verbinden und das Netzwerk selbst definieren: „ Actors form networks by circulating intermediaries among themselves, thus defining the respective position of the actors within the networks and in doing so constituting the actors and the networks themselves.“ (Stalder 1997) „An intermediary is anything that passes between actors in the course of relatively stable transactions. It can be a text, a product, a service, or money.“ (Wiebe Bijker 1992) „ Intermediaries are the language of the network. Through intermediaries actors communicate with one another and that is the way actors translate their intentions into other actors. Considering the definition of actors as any element which makes other elements dependent upon itself and translates their will into a language of its own, the possibility to command intermediaries lies at the heart of action itself, which is translating an actor's will into other actors.“ (Stalder 1997)

Die Dynamik von Aktor-Netzwerken differenziert Stalder in drei Phasen: Entstehung, Entwicklung und Stabilisierung. ´Dynamik und ´Phasen bezieht sich hierbei auf das Verhalten von Netzwerken. „While it is not necessarily any need that they be separated, it is useful to construct them as analytical idealtypes (Max Weber) of the stages a network may undergo during his lifetime.“ [Hervorhebung von mir]

Entstehung Netzwerke werden durch Aktoren geschaffen – es gibt keine Aktoren ohne Netzwerke und keine Netzwerke ohne Aktoren, deshalb entstehen neue Netzwerke immer aus bereits existenten Netzwerken. Dies impliziert die Schwierigkeit, den „Anfang“ eines Netzwerkes zu bestimmen. Stalder verweist - wieder getreu Weber und die Notwendigkeit dieses Arbeitsschrittes innerhalb der Netzwerkanalyse keineswegs negierend – auf das Forschungsinteresse des Wissenschaftlers: „If the interest is in a product, then the beginning might be found in some form of perceived need or possibility. This could be based on, for example, a new invention, which would then be one of the old networks out of which a new network emerges. Other things could serve as a mark for the beginning as well. John Law and Michel Callon (1992) trace the beginning of a failed project for a British military aircraft industry back to a policy decision for rationalization of the aircraft industry. This decision, however, in itself contested, functioned only as an intermediary, (re)connecting existing networks of industry, labour and government to begin aligning themselves for the development and production of a new aircraft. At the beginning, therefore, stands an intermediary, which is brought into circulation by a network in order to align more/different actors for the network´s own interest. In other words, the attempt of an existing actor to grow and include new domains can be a good starting point to observe the emergence of a network. Networks emerge and are shaped by aligning more and more actors. In this way an actor can grow. The importance of an actor depends therefore on the number of actor within his/her/its networks which he/she/it can employ to a particular purpose.“ (Stalder 1997)

Die Größe und Gestalt eines Aktors aber ist nicht zwangläufig abhängig von einer langen Entwicklung. Es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen einer ausgedehnten Struktur und einem kleinen Aktoren, der relevante Unterschied besteht in der Anzahl der vernetzten Aktoren: „It is a mistake to take differences in size of a network for differences in level, because networks always connect at the same time what conventional sociology differentiates into micro and macro levels. This interconnection renders such a distinction less significant, because ´that which is large is that which has successfully translated others and has therefore grown. Since size is nothing more than the end-product of translation, the need for two analytical vocabularies is thus avoided.` Networks are made up of what they network-actors which are always localized - yet these networks can extend around the globe. Networks can be so large and stable that they appear to be independent from the actors. This, however, is a misconception.“ (Stalder 1997)

Netzwerke sind immer abhängig von Aktoren. Jeder Aktor mag ersetzbar sein, aber nur durch einen anderen Aktor.
Es gibt in ANT keine separierende Trennung von ´StrukturundIndividuum`. „The two extremes, local and global are much less interesting than the intermediary arrangements that we are calling networks.“ (Latour 1993)

Entwicklung Netzwerke können sich in zwei verschiedene Richtungen entwickeln: in Richtung von Konvergenz oder in Richtung von Divergenz der Aktoren. Das Hinzukommen neuer Aktoren zu einem bestehenden Netzwerk steigert beispielsweise zunächst die Divergenz. Übersetzungsprozesse sind erschwert, weil jeder (neue) Aktor bereits Teil anderer Netzwerke ist und in deren jeweiligen Interessen handelt, indem er/sie/es andere dazu bringt, Dinge zu tun. „There is a process of mutual shaping between a new actor and an existing network. In the end neither the network nor the actor now included remains the same. The changes can be so subtle that they are negligible or they might be massive for either one or for both of them.“ (Stalder 1997)

Um erfolgreich zu funktionieren, muß innerhalb eines Netzwerkes die Zirkulation der Mediationen koordiniert sein, d.h., daß für die Aktoren innerhalb eines Netzwerkes der Interpretationsspielraum beim Übersetzungsprozess nicht unbegrenzt ist (siehe vorangegangener Begriff ´prescribtions`). Aktoren streben einem internen Konsens zu, der eine optimale Zirkulation von Mediationen erlaubt, denn ihre eigene Stärke ist von der Koordination innerhalb des Netzwerkes abhängig: „In networks where the actors have successfully converged, i.e. are strongly coordinated, the network as a whole stands behind any one of the actors who make it up.“ (Stalder 1997)

Die Art und Weise, zu Übereinstimmung zu gelangen, die Skala der möglichen Interpretationen beim Übersetzungsprozess ist das, was einem Netzwerk seine Gestalt verleiht. Umso stärker die Koordination der Zirkulation von Mediationen ist, desto stabiler wird ein Netzwerk. Umso stabiler ein Netzwerk ist, desto differenzierter sind die Definitionen seiner Komponenten, desto kleiner wird die Möglichkeit für andere Netzwerke, existente Vernetzungen zu lösen, um einen involvierten Aktor für die eigenen Ziele neu zu definieren - das Netzwerk wird zur black box.
Aktoren müssen jedoch nicht zwangsläufig erfolgreich sein in ihrem Bestreben nach optimaler Zirkulation: „The translation process can be denied. People might not want to become users and not buy a product, or they might stop being willful citizens and overthrow their government. A machine can fall apart because of a construction error, new invention may render old solutions obsolete and channel money and other resources into new directions. The circulation of intermediaries within a network, then, becomes more and more difficult and the alignment of actors becomes weaker and weaker, the actors begin to diverge and the setting to disintegrate. The black box loses its integrity, the edges become fuzzy.“ (Stalder 1997)

Konvergenz und Divergenz charakterisieren die beiden Pole, zu welchen hin ein Netzwerk sich entwickeln kann, entweder tendiert es zur Stabilisierung oder zur Auflösung. Konvergenz in einem Netzwerk meint nicht, daß alle Elemente gleich werden, sondern daß die Aktivitäten eines Aktors mit denen anderer Aktoren korrespondieren.

An dieser Stelle resümiert Stalder: „We have now arrived at the classic problem of any deconstructivist theory. We have encounted for the openness of any development (within certain „existantialist“ restrictions) and for the multiple determination and interpretative flexibility of every element within a network, as well as the network itself. However, our society of humans and non-humans works quite well in a surprisingly stable fashion. We flip a switch and the light turns on. Our planes take off and land precisely enough to plan a trip around the world in a couple of minutes. Strategic plans can be set out years ahead. How do we encount for such an incredible success of networks?“

Stabilisation Ein Aktor-Netzwerk strebt nach Stabilisierung, weil die Wesenheiten, aus denen es besteht, in ihrer netzwerkspezifischen Form ohne es nicht existieren würden. Es ist das Interesse aller partizipierenden Aktoren, eine höchstmögliche Stabilität zu erreichen. „The stability of a network depends on the "impossibility it creates of returning to a situation in which its current form was only one possible option among others. In other words, stabilization, or closure means that the interpretive flexibility diminishes. Consensus among the different relevant social groups - or more broadly, actors - about the dominant meaning of an artifact merges and the 'pluralism of artifacts' decreases. Once forged into an artifact, embedded social relations remain stable as long as the artifact it used.“ (Stalder 1997)

Heterogenität ist ein weiterer zentraler Aspekt eines stabilen Netzwerkes. Umso mehr verschiedene Elemente miteinander verbunden sind, desto komplexer und stabiler wird das Netzwerk.
Größe und Stabilität eines Netzwerkes stehen in Zusammenhang. Umso größer es wird, desto heterogener wird es, weil es neue Elemente entwickelt, um die wachsende Zahl an bestehenden Elementen zu koordinieren. In der systemtheoretischen Terminologie nennt man diesen Prozess Differenzierung: „The network starts to develop its own trajectory, supported by its elements which themselves depend on the network as environment. A network therefore starts to become heavy with norms of all sorts in the course of stabilization. This means, of course, nothing else than that more actors are integrated or created.“ (Stalder 1997)

Ein sich stabilisierendes Netzwerk widersetzt sich nicht nur gegenläufigen Übersetzungen, es schränkt auch die Summe potenzieller zukünftiger Übersetzungen ein: „This means in order to establish other links and set-up new translations, you would first have to undo those which already exist, and change the equivalence in operation, which would in turn mean mobilizing and enrolling new alliances. ( ... ) Thus non-linearity and path-dependance can be seen to be integral to the dynamics of a network.“ (Stalder 1997)

Die (Er-)Klärung der Grundbegriffe der Actor Network Theory läßt jedoch die Frage nach Kriterien der Abgrenzung unbeantwortet: Wo endet ein Netzwerk und wo beginnt das nächste ? „Michel Callon simply refers back to empirical studies in concluding a ´network´s boundary can be related to its degree of convergence. We will say that element Y is outside of a network if locating the links between it and the actors (A,B,C,...) significantly decreases the network´s degree of convergence. Not of much more help are Wiebe Bijkers and John Law stating that ´in effect it rests on a bet that for certain purposes some phenomena are more important than others. It simplifies down to what it takes to be essential. For Bruno Latour, the description of a network is simply finished, when it is ´saturated` and an explanation emerges. In other words, the question of how to limit the analysis can only be addressed on an empirical level.“ (Stalder 1997)

Stalders Erweiterung der Actor Network Theory hier besteht in der Zuhilfenahme des Abgrenzungsbegriffes aus der Systemtheorie, der aufgrund der Ähnlichkeit von autopoietischen Systemen mit Aktor-Netzwerken auf ANT anwendbar wird.


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