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Geschichtswissenschaft und Ethnologie


Schwestern im Geiste--eigentlich. Arnold Esch: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers* [in: Historische Zeitschrift Bd. 240, 1985, S. 529-570]

Der Mediävist Arnold Esch reflektiert Arbeitsmaterial und Erkenntnismöglichkeit des Historikers: Überlieferung und deren Interpretation hinsichtlich der Rekonstruierbarkeit historischer Wirklichkeit. Er zeigt zunächst für die mittelalterliche Geschichte anhand des größten aus dem Mittelalter überlieferten Quellencorpus, den Urkunden, daß historische Quellen ungleichmäßig und daß Vergangenheiten fragmentarisch überliefert sind. ´ Esch benennt beispielhaft zwei entscheidende Faktoren, die Überlieferung beinflussen: Zufall und ungleiche Chancenverteilung bei verschiedenen Quellensorten, überliefert zu werden. (Kirchendokumente hatten beispielsweise durch die Existenz kirchlicher Archive verhältnismäßig große Chancen überliefert zu werden.) Er formuliert die Forderung an den Historiker, nicht nur mit dem zu arbeiten, was er in Händen halte, sondern immer auch zu fragen, was nicht überliefert worden sei, um sich der historischen Wirklichkeit so weit wie möglich anzunähern. Der Autor beschränkt sich hierbei nicht auf die Mediävistik, denn die Selektion der Überlieferung ist kein abgeschlossener Prozess, wovon neben vielem anderen Aussonderungsverfahren und Kriterienkataloge zeitgenössischer Archive zeugen. Die Methode, der Verzerrung der historischen Wirklichkeit durch das argumentum silentio - wovon wir nicht wissen, hat nicht existiert - entgegenzuwirken, sieht Esch in der kontextualistischen Quellenkritik. Diese berücksichtige idealiter sowohl das Nichtüberlieferte als auch die Person des Wissenschaftlers, der letztlich durch seine Wahl des Forschungsgegenstands historische Wirklichkeit mitkonstruiert.* [Annariitta Grzonka 2002]


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Geschichtswissenschaft und Ethnologie #2

"Er formuliert die Forderung an den Historiker, nicht nur mit dem zu arbeiten, was er in Händen halte, sondern immer auch zu fragen, was nicht überliefert worden sei, um sich der historischen Wirklichkeit so weit wie möglich anzunähern."

Bravo! Dem möchte ich folgendes anschließen:

"The stuff of history is no more nor less than the sum total of human experience [...]"

Was die obige Passage nur bekräftigt. Robert F. Wheeler, von dem dieses Zitat stammt führt an anderer Stelle weiter aus:

"[...] I believe that if a person would better understand his or her own environment, it is necessary to experience and examine other cultures."

"Schwestern im Geiste" - Das ist gut getroffen, doch die damit Verbundene Forderung ist andererseits natürlich keine leichte. Während die Ethnologen in erster Linie Informationen aus erster, im Idealfall eigener Sicht, z.B. durch dichte Teilnahme erwerben, haben die Historiker kein leichtes Spiel, sich - naja, zum Beispiel in das 11. Jahrhundert n. Chr. zu versetzen und die fehlenden Elemente für die historische Wirklichkeit zu erfahren. Wie ist es denn erst bei Kulturen, die nicht so fleißig über Geschehnisse buchgeführt haben? Man kann sich natürlich kulturwissenschaftlichen Wissens bedienen, um das kulturelle Gefüge vergangener Kulturen zu rekonstruieren, doch kann das nicht mehr als Modellcharakter haben. Der Weg geht dort über die eigentliche Schwesternwissenschaft der Geschichte, der Archäologie - aber sind nicht dort auch Schlüsse oft leider nur Spekulation? Das gleiche Problem umgedreht gilt auch für die Ethnologen, denke ich. (*)Zitate aus: WHEELER ROBERT F. 1978: Teaching Sport as History, History as Sport. The History Teacher, Vol. 11, No. 3 May 1978, 311-322.

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Bravo!

Danke.

Dem möchte ich folgendes anschließen:
"The stuff of history is no more nor less than the sum total of human experience [...]"
Was die obige Passage nur bekräftigt.

Im Gegenteil!
The stuff of history aka the past aka the historic reality actually always is fragmentarily reconstructed and never in it`s whole.
It cannot be "the sum total of human experience" - diese Annahme vielmehr ist Teil eines spezifischen Fortschrittsdiskurses und leicht widerlegbar.

Man kann sich natürlich kulturwissenschaftlichen Wissens bedienen, um das kulturelle Gefüge vergangener Kulturen zu rekonstruieren, doch kann das nicht mehr als Modellcharakter haben. Der Weg geht dort über die eigentliche Schwesternwissenschaft der Geschichte, der Archäologie - aber sind nicht dort auch Schlüsse oft leider nur Spekulation?

Ich fürchte, ich kann Dir hier nicht folgen.
Die Archäologie ist keine Schwesternwissenschaft der Geschichtswissenschaft.
Und nein, es gehört zum allgemeinen wissenschaftlichen Standart, daß die Argumentation nicht spekulativ ist - Hypothesen bilden eine Ausnahme, müssen aber als solches gekennzeichnet sein.

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Ich muss mich entschuldigen, ich habe das Zitat zugegebenermassen etwas aus dem Kontext herausgenommen: In dem Aufsatz von Wheeler geht es darum, dass die Geschichtswissenschaftler damals aus einem ihnen eigenen Elitismus heraus "banale" Sachen, wie Sport nicht berücksichtigt haben. "The stuff of history is no more nor less than the sum total of human experience [...]" meint hier, dass man banal scheinende historische Fragmente nicht weglassen darf, da sie der historischen Rekonstruktion erheblich beitragen. Ich nehme an, Wheeler war sich drüber im klaren, dass Geschichte immer fragmentarisch sein muss. Er bewegt sich aber nicht von Eschs Argumentation weg, wenn dieser schreibt, dass " [...]Person des Wissenschaftlers, der letztlich durch seine Wahl des Forschungsgegenstands historische Wirklichkeit mitkonstruiert."

Dass Wheeler dabei fragmentarische Eigenheit der Geschichte nicht berücksichtigt, wenn er sie als Summentotal menschlicher Erfahrung bezeichnet ist richtig. Und das ist in der Tat leicht widerlegbar.

"Er formuliert die Forderung an den Historiker, nicht nur mit dem zu arbeiten, was er in Händen halte, sondern immer auch zu fragen, was nicht überliefert worden sei, um sich der historischen Wirklichkeit so weit wie möglich anzunähern." Aber ist das nicht Spekulation? Oder ist das dann die zu kennzeichnende Hypothese?

Und warum ist die Archäologie nicht die Schwesternwissenschaft der Geschichte?

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Ich muss mich entschuldigen

Na höchstens bei Wheeler, der mir zugegebenermaßen überhaupt kein Begriff ist.

In dem Aufsatz von Wheeler geht es darum, dass die Geschichtswissenschaftler damals aus einem ihnen eigenen Elitismus heraus "banale" Sachen, wie Sport nicht berücksichtigt haben.

Es gab diverse Paradigmenwechsel innerhalb der Geschichtswissenschaft seit der Geschichte der Großen Männer (d.h. einer Geschichtsschreibung, die sich auf Außenpolitik großer Staaten und auf Führungspersönlichkeiten beschränkte).

Warum ist die Archäologie nicht die Schwesternwissenschaft der Geschichte?

Archäologie IST Geschichtswissenschaft.
Knochen, Steine, Scherben, Text - all das sind Quellen.

"Er formuliert die Forderung an den Historiker, nicht nur mit dem zu arbeiten, was er in Händen halte, sondern immer auch zu fragen, was nicht überliefert worden sei, um sich der historischen Wirklichkeit so weit wie möglich anzunähern."
Aber ist das nicht Spekulation?
Oder ist das dann die zu kennzeichnende Hypothese?

Weder noch. Der Schlüsselbegriff hier lautet Kontext.

[sry wgn. der Kürze der Antwort - gotta hurry today..]

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"Wheeler, der mir zugegebenermaßen überhaupt kein Begriff ist."

War er mir auch nicht. War wohl sein Schicksal.

Archäologie IST Geschichtswissenschaft.
Knochen, Steine, Scherben, Text - all das sind Quellen."


Daran gibts nichts zu rütteln. Ich drücke mich aber oft zu ungenau aus: Ich wollte eigentlich sagen, dass die Archäologie die Schwesternwissenschaft jenes geschichtswissenschaftliches Zweiges ist, dass sich meist auf dokumentarische Quellen (Also Texte) stützt, aber wir verstehn uns eh jetzt.

"Weder noch. Der Schlüsselbegriff hier lautet Kontext." hm. Ich fürchte ich kann dir da nicht folgen. Ich lass es mir aber mal durch den Kopf gehen, muss mich jetzt auch sputen..

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