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Freiheit der Bildung und Bildung der Freiheit – Zum Zusammenhang von Bildung, Bildungssystem und Gesellschaft


Als Folge meiner Erfahrungen mit der Münchner Bildungsbewegung im Herbst 2009 habe ich diesen Artikel verfasst. Er hatte vor allem die Funktion, einen Begründungszusammenhang verschiedener, bis dahin nur lose zusammenhängender Forderungen herzustellen. Konstruktive Kritik ist gerne erwünscht:

Die hastigen Beschlüsse der Kultusministerkonferenz in Bonn offenbaren einmal mehr, dass das deutsche Bildungssystem einseitig und autoritär gestaltet wird. In dieser Tatsache liegt das Scheitern von G8 und Bologna begründet. Hätte man vor 10 Jahren auf die fundierte Bologna-Kritik von Studenten und Professoren gehört, sie ernsthaft aufgenommen und eingearbeitet, wäre es zu dem heutigen Irrsinn einer Reform der Reform nie gekommen.

Schön, wenn die Schavans oder Wintermäntel der Bildungspolitik öffentlich ihr Verständnis für die Proteste der europaweiten Bildungsbewegung bekunden. Unschön freilich, wenn sie daraus keine Lehren ziehen und den so notwendigen Dialog mit Schülern und Eltern, Studenten und Professoren nach wie vor bewusst umgehen. Spätestens hier zeigt sich die Notwendigkeit einer grundlegenden Demokratisierung des Bildungssystems.

Ich will im folgenden aufzeigen, dass diese Selbstüberheblichkeit und Ignoranz nicht nur „Bildung“ bedroht, sondern dass damit einhergehend selbst das hehre Ziel einer freien, solidarischen und toleranten Gesellschaft in Gefahr ist.

Was ist Bildung?

Bildung eröffnet dem Menschen die Fähigkeit, in ein reflektierendes Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur Welt zu treten. Dieses Verhältnis ist bei einem gebildeten Menschen nicht determiniert, sondern die Ausgestaltung dieses Verhältnisses besteht gerade in einer begründeten und bewussten Wahl. Im Denken ist das Potential der Freiheit bereits verwirklicht. Denkend ist der Mensch frei.

Dies erfordert zu aller erst den Zugang zu Alternativen. Ein Kleinkind erfährt die Welt aufgrund der Autorität der Eltern als absolut. Erst die Erfahrung von Alternativen und damit des Denkbaren nimmt dem Weltbild des Kindes den Absolutheitsstatus. Erst damit ist die Entfaltung des menschlichen Freiheitspotentials hin zur tatsächlichen Freiheit ermöglicht.

Je mehr Bewusstsein bei Kindern, Eltern und in der gesamten Gesellschaft über die Vielfalt und Kontingenz bestimmter Formen der Lebensgestaltung herrscht, je mehr Alternativen dem Menschen aufgezeigt und zugleich eingeräumt werden, desto leichter gelingt es ihm, seine Freiheit und Persönlichkeit zu entfalten, sein Eigenes in Abgrenzung zum Anderen herauszubilden und schließlich diese Freiheit im Sinne der Toleranz auch anderen zuzuerkennen. Erst durch die bewusste Wahl zwischen Alternativen haben wir es mit einer begründeten Freiheit aus Einsicht zu tun. Diese Alternativen aufzuzeigen ist Aufgabe eines freien und sozialen Bildungssystems. Eine gebildete Gesellschaft und eine freie, solidarische und tolerante Gesellschaft bedingen einander.

Was muss ein Bildungssystem leisten?

Bildung ist ein hohes Gut. Mit der frühzeitigen Aufteilung in das dreigliedrige Schulsystem sowie der zeitlichen Verknappung durch die Umstellung auf G8 ist gesellschaftlich jedoch keine Bildung gewährleistet. Im Gegenteil: Das Schulsystem setzt auf gedankenloses Pauken und nicht auf die Entwicklung sozialer Kompetenzen oder eigener Interessen, die für die Entfaltung und Herausbildung einer freien und individuellen Persönlichkeit entscheidend sind. Diese Logik setzt sich an der Universität fort. Denn die „Bologna-Reform“ hat mit der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge, der Regelstudienzeiten und des Studienziels der „employability“ die Universitäten zu bloßen Ausbildungsbetrieben reduziert. Statt Freiheit im Denken und Handeln zu fördern (und zu fordern) sollen sie effiziente Studenten mit Halbwissen für den globalisierten Arbeitsmarkt produzieren.

Um Bildung zu ermöglichen, muss ein Bildungssystem Lernenden wie Lehrenden Freiräume gewähren: Freiräume für eigene Entscheidungen, für Verantwortung, für Fehler, für die Beschäfti­gung mit Dingen, die das Interesse und nicht der Nutzen vorgibt. Stätten der Bildung sind Orte, wo alles gedacht und alles in Frage gestellt werden kann; Orte, wo es ernste Alternativen des Denkba­ren gibt. Stätten der Bildung müssen des weiteren chancengerecht sein, sodass niemand, der seine Begabungen mitbringt und den Mut hat, sich seiner eigenen Freiheit zu bedienen, aus finanziellen oder sozialen Gründen am Zugang zu den höheren Bildungseinrichtungen gehindert wird. Stätten der Bildung müssen außerdem demokratisch strukturiert sein, weil nur durch Mitbestimmung und Mitgestaltung aller partizipierenden Akteure tatsächliche Freiheit gewährleistet werden kann. Stät­ten der Bildung müssen schließlich im Kern frei sein von ökonomischen Interessen, da sie die Bildung einem äußeren Zweck unterwerfen, Bildung hingegen ihr Ziel in sich selbst hat.

Die Aufgabe des Bildungssystems ist es also, die Möglichkeitsbedingungen für Bildung zu gewährleisten. Sich Bilden muss sich hingegen jeder selbst. Bildung meint nämlich immer schon Aktivität, Kreativität und Schaffensdrang. Freie Universitäten setzen also freie Studenten voraus. Schulen und Universitäten sollten zu dieser Freiheit ständig neu ermutigen, frei sein muss hingegen jeder selbst. Dies ist der Zwang, die Grenze der Freiheit. Wer diese Freiheit auf Dauer nicht mitbringt, kann sie nicht zugleich einfordern.

      Freiheit der Bildung und Bildung der Freiheit

Soviel ist sicher: Das derzeitige Bildungssystem ist nicht zukunftsfähig, weil es auf Ausbildung statt auf Bildung setzt. Die europaweite Protestbewegung weist auf diese Diskrepanz hin und verleiht damit einer ihrer zentralen Forderungen, der Demokratisierung der Bildungssysteme, öffentlich Ausdruck. Das Versagen der Hochschulreform beweist, dass ein Bildungssystem nicht rein „von oben“ gestaltet werden kann. Man muss auch denjenigen eine Stimme geben, für die es gestaltet wird. Das Bildungssystem allein gewährleistet keine Bildung, sondern erst das Zusammenspiel mit den frei „Sich-Bildenden“.

Schüler und Studenten müssen daher ein Mitsprache- und auch Entscheidungsrecht bei der Gestaltung des Bildungssystems erhalten. Sie sind das Bindeglied dieses Zusammenspiels. Gelingt es uns als Gesellschaft, ein freies, chancengerechtes und demokratisches Bildungssystem aufzubauen, und bringen die einzelnen – unterstützt von der Familie, den Bildungseinrichtungen und der Gesellschaft – den Mut auf, sich ihrer Freiheit verantwortlich zu bedienen, lässt sich das Ziel einer freien, solidarischen und toleranten Gesellschaft stets aufs Neue verwirklichen.


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Leider scheint Bildung, wie Du sie hier skizzierst, ein absoluter gesellschaftlicher Luxus zu sein. Es ist klar, dass wir uns hier in Deutschland zunehmend von unserem Luxus verabschieden müssen. Dass wir uns aber ausgerechnet zuerst vom Luxus freier Bildung verabschieden sollen, wird nachhaltige und irreversible Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben.

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Der Vorteil einer formalen Defenition von Bildung, unter der der Zugang zu Alternativen gemeint ist, hat gerade den Vorteil, kein Luxusprodukt zu bezeichnen. Bildung meint gewissermaßen "Mensch-Sein". Damit ist noch kein grundlegender Unterschied gemacht zwischen einem handwerklichen Beruf und einem Philosophiestudium. Dass ein Bildungssystem, dass nicht auf Bildung sondern von der frühen Schule an auf Ausbildung zielt, diesen Umstand nicht gerecht wird und, wie du sagst, schwerwiegende soziale Folgen nach sich zieht, ist ja gerade die ( an sich nicht wirkliche neue) These meines Ansatzes.

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Zwar mag eine formale Definition an sich wertfrei sein. Aber eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern die Möglichkeit gibt oder sie gar darin unterstützt, frei und auch gegen den Strich zu denken, ist eine Gesellschaft, die sich das - ganz materiell - leisten kann oder darin einen gesellschaftlichen Mehrwert erkennt.

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Interessantes Blos, wichtige Themen

Nur ein kurzes Hallo und Gratulation zu diesem gelungenen Blog.

Als Studentin (zweiter Bildungsweg) des Studiengangs B.A. Bildungswissenschaft und dann M.A. e-Education Bildung und Medien beschäftigt mich die Thematik ebenfalls sehr - ein Menschenbild ohne den Anspruch und vor allem die Möglichkeit auf individuelle und freie Bildung lässt mich schaudern...

Im Herbst habe ich eine Community für Selbstorganisiertes Lernen gegründet: http://www.sieseco.de zur Unterstützung und Förderung des Zweiten Bildungswegs als Alternative zur reinen Berufsausbildung die Erwachsenen fast ausschließlich angeboten (aufgedrängt) wird.

Wer Interesse hat ist gerne eingeladen, vorbeizuschaun oder sich zu beteiligen.

Weiter viel Erfolg und Grüße

Sabine
Siemsens Selbstlerner Community

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Dies ist ein politischer Text, in dem es darum geht, Ideale zu formulieren. Ich vertrete hier letztlich keinen deskriptiven Begriff von Bildung (auch wenn dies ersteinmal so aussieht), sondern einen normativen.

Dabei beziehe ich mich hier ganz konkret auf das deutsche Bildungssystem. Mit Luxus hat das nach wie vor nichts zu tun. Für Bildung in diesem formalen Sinne bedarf es nicht notwendig materieller Grundlagen. Es geht wie du sagst viel mehr darum, einen Wert darin zu sehen, freiheitliches denken zu fördern. Sicherlich steht dies an vielen Orten der Welt auf der Prioritätenliste nicht sehr weit oben. Aber nicht weil man nicht kann, sondern weil man nicht will. Nochmals. Dies ist ein politischer Text.

“Wenn man das Ziel nicht kennt, ist kein Weg der richtige” - Koran.

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"Für Bildung in diesem formalen Sinne bedarf es nicht notwendig materieller Grundlagen." Dann brauchen wir uns ja nicht zu beschweren, wenn dem "Bildungssystem" das Geld gekürzt wird.
Doch! Weil das eben genau der Freiraum ist, den man für "Bildung" in diesem Sinne braucht: freien Zugang zu "Bildungseinrichtungen", die diesem Namen auch gerecht werden! Das ist auch eine politische Forderung, und in der Politik geht es IMMER um Geld.

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Gut. Wenn es bei Bildung immer auch um Geld geht, wie du sagst, warum kritisierst du dann meine Position als eine solche, die Bildung als Luxus skizziert, insofern man sie sich ersteinmal leisten muss.
Oder kritisierst du, um zu kritisieren?

Und der Luxusvorwurf von Bildung macht gerade in Deutschland keinen Sinn. Die materiellen Ausgaben für Bildung kommen auf lange Zeit gerechnet durch gebildete Bürger wieder rein. Eine freie Marktwirtschaft braucht möglichst viele gebildete Arbeitgeben und -nehmer.

Und ganz abgesehen davon. Natürlich geht es bei Bildung immer auch um Geld. Und wir müssen uns beschweren, wenn an gewissen Stellen das Geld gekürzt wird. Nur hört es dabei nicht auf. Es ist nicht bloß eine Frage des Geldes, sondern eine Frage der Pädagogik. Es ist ja in Deutschland und vielen anderen Orten der Welt nicht so, dass es keine Lehrer mehr gibt und keine Schulgebäude und keine Bibliotheken und dass es einen Großteil der Kinder nicht möglich ist, in die Schule zu gehen. Doch leider ist es in der Regel so, dass Schülern und Studenten häufig zu wenig Freiraum gegeben und zuwenig Eigenverantwortung und Mitbestimmungsrecht zugesprochen wird. Bildung muss frei sein. Dies ist in erster Linie ein ideeller Luxus, kein materieller. Und wofür lohnt es sich noch einzutreten, wenn nicht für diesen Luxus?

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der begriff "luxus" bezeichnet etwas, das verzichtbar ist, die materielle kür nach der pflicht (grundbedürfnisse). ich glaube, dass bildung, wie du sie hier skizzierst, in unserer gesellschaft und vor allem in der politik, als ein solcher luxus verstanden wird. der "luxusvorwurf" kommt also nicht von mir, ich bin hier nur der advocatus diaboli.
ich stimme mit dir überein, dass bildung, nicht ausbildung, die grundlage unserer gesellschaft sein muss. mein geld-gestänker sollte nur deinen argumenten eine weltliche dimension hinzufügen.

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