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Vom Begriff der Selbstregulierung


Exkurs: Annäherung an die Kritik der Politischen Ökonomie anhand des Opus Magnus der Konspiration Kluge/Negt: Geschichte und Eigensinn (FfM 1981).*[Grzonka 2001]

Die begriffsgeschichtliche(1)Begriffsgeschichte nach Reinhard Kosellek. Diese hat im Unterschied zur Etymologie, die Formwandel und Gebrauch der Worte fokussiert, die Entwicklung von Bedeutung und Funktion derselben zum Gegenstand: Begriffe sind Repräsentationen. Vgl. entsprechend das Verhältnis von Wort und Begriff: Das ´Wort ist das pure Zeichen für etwas, während der ´Begriff das aktive Moment der Verarbeitung, das Begreifen des Zeichens impliziert. Wie die Verarbeitung geschieht, man könnte auch sagen Aneignung, ist abhängig von spezifischen Faktoren, die individuell, gesellschaftlich und kulturell variieren. Untersuchung von ´Selbstregulierung` wäre angesichts seiner widersprüchlichen Kontexte in Geschichte und Gegenwart eine interessante Aufgabe.
Eine zentrale Stellung nimmt der Begriff im Wirtschaftsliberalismus ein, wo er von dem englischen Ökonomen und Philosophen Adam Smith (1723-1790) als Eigenschaft des Freien Marktes geprägt wurde. Diese sei nach Smith der natürliche Garant für die Vielfalt des Angebotes, Vorherrschaft und Monopolbildung auf einem Freien Markt nicht möglich. Die Entwicklung des internets als weltumspannendem Kommunikationsnetz, die Erschließung des bislang größtvorstellbaren Marktes - des Weltmarktes - und die mit diesen Entwicklungen einhergehenden Veränderungen der individuellen Lebenswelten im auslaufenden 20. Jahrhundert heben Smiths Begriff aus dem lokalen in den globalen Kontext. Er bleibt verblüffend vielerorts postuliert als natürliche Gesetzmäßigkeit des freien markwirtschaftlichen Systems(2), während die Prämissen zur Selbstregulierung wie Transparenz und der daraus resultierende Wettbewerb, den Smith auf dem lokalen Markt(-platz) in seiner Heimatstadt Glasgow seinerzeit richtig beobachtet hat, auf globaler Ebene nicht mehr vorhanden sind.

Anders gelagert ist der Begriff, den Oskar Negt und Alexander Kluge im zweiten Kapitel von Geschichte und Eigensinn entwickeln: Selbstregulierung als "Wesenseigenschaft, die die Menschen für sich besitzen"(3). read allDer Gegenstand ihrer Betrachtung ist "die Natur der Zellen, der Haut, der Körper, des Hirnes, der fünf Sinne, der darauf aufgebauten gesellschaftlichen Organe: Lieben, Wissen, Trauern, Erinnern, Familiensinn, Hunger nach Sinn, die gesellschaftlichen Augen, die kollektiven Aufmerksamkeiten."(4)

Organe wie Gehirn und Zellen werden gleichermaßen als menschliche Eigenschaften betrachtet wie die Sinne des Menschen, der visuelle Sinn genauso wie das Lieben und das Streben nach Sinn. Differenziert werden zwei Naturen: eine erste und eine zweite Natur des Menschen.

Die erste Natur sei die Vorgesellschaftliche. Gemeint ist die unmittelbare Biologie, die Summe der originären Organe, bzw. Eigenschaften, mit denen ein Mensch geboren wird, bevor sie unter den Bedingungen der Umwelt geprägt werden. Die zweite Natur des Menschen seien die gesellschaftlichen Eigenschaften, d.h. die Modifizierung der ersten Natur unter den Bedingungen der Gesellschaft: "Wie erst die Musik den musikalischen Sinn des Menschen erweckt, wie für das unmusikalische Ohr die schönste Musik keinen Sinn hat, (kein) Gegenstand ist, weil mein Gegenstand nur die Betätigung einer meiner Wesenskräfte sein kann, also nur so für mich sein kann, wie meine Wesenskraft als subjektive Fähigkeit für sich ist, weil der Sinn des Gegenstandes für mich, nur Sinn für einen ihm entsprechenden Gegenstand hat, gerade so weit geht als mein Sinn geht, darum sind die Sinne des gesellschaftlichen Menschen andere Sinne, als die des ungesellschaftlichen ( ... )." (6)Karl Marx, Aneignung der menschlichen Wirklichkeit aus: Nationalökonomie und Philosophie; in: Peter Sloterdijk (Hg.), Marx. Ausgewählt und vorgestellt von Oskar Negt. München 1998, S. 82 f

Die Modifizierung beginnt gewöhnlich mit dem Moment der Geburt. Der neugeborene Mensch besitzt beispielsweise inform der Anlagen seines Sprachapparates die Eigenschaft, alle Phoneme zu bilden. Er tut es auch zunächst. Es ist eine Eigenschaft aus der ersten Natur. Mit dem Erlernen der Muttersprache verändert sich dies dahingehend, als daß Phoneme, die in der Muttersprache nicht vorkommen, aus dem aktiven Gebrauch verschwinden und das Formen derselben verlernt wird. Aus der zunehmend begrenzten Auswahl von Phonemen werden zunächst Worte imitierend gebildet, später deren Bedeutung erlernt. Das Verbalisieren ist eine Eigenschaft der zweiten Natur. Der Sprachapparat an sich ist ein Element der ersten Natur. Die Entstehung der zweiten Natur stellt hier eine Reduktion dar, keine Erweiterung.

Der bei Negt/Kluge gebrauchte Begriff der menschlichen Natureigenschaft distanziert sich von einer trennenden Abstraktion des Individuums von der Gesellschaft: "Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung - erscheint sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit anderen zugleich vollbrachten Lebensäußerung - ist daher eine Äußerung und Betätigung des gesellschaftlichen Lebens."(7)

Das bedeutet nicht, daß die zweite Natur - wozu möglicherweise die Nummerierung versucht anzunehmen - im Verlauf des individuellen Lebens die erste Natur zunehmend überlagere, ersetze oder vollständig modifiziere. Ebensowenig ist es denkbar, daß bei einem menschlichen Individuum sich keine zweite Natur ausbilde. Vielmehr bestehen beide Naturen in lebenslanger Wechselwirkung zueinander "und zwar so, daß beide Naturen auf die Basis und den Aufbau, auf originäre Natur des Menschen und auf die gesellschaftlichen Organe gleichermaßen die ganze Zeit über einwirken."(8)

Der Gesellschaftsbegriff bezieht sich auf einen der modernen Gesellschaft, an dessen Anfang die feudale Ständegesellschaft steht. Aus ihr entsteht in einer Periode der politischen Revolutionen, deren Beginn für Europa mit der Französischen Revolution markiert wird, die bürgerliche Gesellschaft: Das den sozialen Status bestimmende Merkmal der Geburt wird durch das moderne Prinzip der Leistung und des Berufes abgelöst. Die bürgerliche Gesellschaft wird durch die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert zur Klassengesellschaft; der Besitz, die ökonomische Lage und die Stellung in der Produktion bestimmen mit dem sozialen Prestige die Schichtung der Gesellschaft.(9)T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983. S. 255

Das ist eines der ´Oben und Unten`, von denen bei Kluge und Negt die Rede ist.

In den Anfängen der bürgerlichen Epoche entsteht in der Übertragung aufklärerischer Ideen auf Wirtschaft und Gesellschaft die Klassische Nationalökonomie als Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie. Adam Smith veröffentlicht 1776 theoriegrundlagenbildend "An Inquiry into the Nature and the Wealth of Nations" - "Der Wohlstand der Nationen“ bzw. „Der Reichtum der Nationen“. Dies ist abhängig vom Erscheinungsdatum der deutschen Übersetzung. Es deutet sich darin aber auch ein Bedeutungswandel an, der sich nationsübergreifend im Begriff des ´wealth of nations` vollzogen hat. Smith sieht in der Arbeit und der Verwirklichung der Eigeninteressen des Einzelnen die Grundlage zum Wohlstand des Gemeinwesens, als Basis der Produktivität den menschlichen Tauschtrieb und die Arbeitsteilung, als Mittel den freien Handel: "Jeder glaubt, nur sein eigenes Interesse zu verfolgen, tatsächlich erfährt so aber indirekt auch das Gemeinwohl der Volkswirtschaft die beste Förderung. Der einzelne wird dabei von einer unsichtbaren Hand geleitet, um ein Ziel zu verfolgen, das er keineswegs intendiert hat."

Er fußt dabei auf dem 1762 von Jean - Jaques Rousseau (1712 - 1778) entworfenen Ideal der demokratischen Gesellschaft(10): "Du Contract Social où Principes du Drôit Politique" - " Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzip des Staatsrechts". Darin geht es um das Prinzip der Volkssouveränität und der vertragstheoretischen Definition der Herrschaft zwischen Regierenden und Regierten: Da sich Menschen zur Erhaltung ihrer Freiheit und Gleichheit zum Staat zusammenschlössen, ruhe die Staatsgewalt beim Volk, die Regierenden seien seine Funktionäre, Gesetze bedürften der Zustimmung aller. Die Volkssouveränität sei absolut, unteilbar, unveräußerlich und bekunde sich in der ´volonté général (dem allgemeinen Willen der Nation), ( ... ) Freiheit existiere nur mit der Gleichheit, d. h. in der Anerkennung des allgemeinen Willens. Dieser sei nicht identisch mit der ´volonté de tous (der Summe der egoistischen Einzelwillen), er könne auch von einer Minderheit für die Allgemeinheit vertreten werden.

Die Fundamente der bürgerlichen Tradition des ökonomischen Denkens differenzieren also im Begriff des ´Gemeinwohls, ´Volkswohlstands, oder auch ´Nationalreichtums` von der Summe der Einzelinteressen und des Privateigentums. Es geht vielmehr um den Zusammenhang zwischen dem öffentlichen Wohl und privater Reichtumsbildung: Zielsetzung war die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit innerhalb eines Gemeinwesens nach dem Prinzip der Selbstregulierung in Abgrenzung zu spezifischen Fremdregulierungen innerhalb des Absolutismus.

Der Realität des ´volonté de tous gegenüber der ´volonté général stand Rousseau selbst kritisch gegenüber: "Comment est-il possible de s´enrichir sans contribuer à appauvrir autrui?"(11) - wie ist es möglich, sich zu bereichern, ohne dazu beizutragen, die Umgebung ärmer zu machen ?

Es ist also nicht der schiere Eigennutz, der im Zentrum der Klassischen Nationalökonomie steht. Dieser liegt allerdings zweifelsohne dem neoliberalen Denken zugrunde, das Politik und Ökonomie der Gegenwart kennzeichnet. Die Auffassung, gegenwärtig sei die deutsche Gesellschaft auf dem Höhepunkt des Fortschritts, da zum Beispiel die Menschen in ihrer Geschichte noch nie sowenig arbeiten müßten, wie heute, ist keine Einzelmeinung. Diese Auffassung ignoriert aber die Lebenswirklichkeit eines beträchtlichen Teils der Allgemeinheit, nämlich mindestens die von derzeit - im Jahr 2001 - 9,2% registrierten Arbeitslosen. Die chronische Massenarbeitslosigkeit der Arbeitsgesellschaft ist neben vielem anderen, wie der terminativen Ausbeutung ökologischer Ressourcen, offensichtlicher Indikator dafür, daß sich unsere Gesellschaft in der Tat in einem Krisenzustand[12) befindet.

Die Verfügung über lebendige Arbeitskraft und Arbeitslosigkeit - also schlicht: Arbeitsplätze - bedeutet, Macht innezuhaben. Eine Machtposition an sich impliziert grundsätzlich den Diskurs, der zur Erhaltung ihrer Herrschaft dient.

In dem Ausmaß, in dem in der ´westlichen Zivilisation die gesellschaftliche Reichtumsproduktion und die menschliche Verfügungsgewalt über die Objektwelt zunimmt, wachse auch der Wohlstand und, der Prämisse des Liberalismus folgend, die Autonomie des Individuums - sollte man annehmen. Zu konstatieren ist, daß u. a. unter dem Schlagwort ´Flexibilität in den Lebenswelten der Menschen hingegen der Anteil der Fremdregulierung durch ´Marktgesetz` und Kapital-Logik, die als naturgegeben postuliert werden wächst.

Die Quintessenz der Modernitätsideologie liegt doch in der Annahme, der Mensch erlange fortschreitend Herrschaft über die Natur bishin zur absoluten Macht, immanent das Prinzip der Kontrolle oder auch Kommandogewalt. Wie verhält sich das Ideal des modernen bindungsfreien, universell einsetzbaren und sich selbst funktionalisierenden Menschen zu seiner Natur?

Ein arbeitendes Zusammengesetztes muß notwendig Rücksicht nehmen auf die elementare Natur, von der es sich abgeleitet hat, durch die sie sich ausschließlich äußern kann und die ihre Bedingung ist.(13) Die Eigenschaften der zweiten Natur sind zweifelsohne entscheidend vom jüngsten Fortschritt der westlichen Gesellschaft, der kapitalistischen Epoche geprägt.(14)Vergleiche beispielsweise die Veränderungen in der visuellen Rezeption: Die Augen folgen dem Sinn des Habens, statt der Gegenstände selbst sehen sie den materiellen Wert, der ihnen inne ist. Eine andere Art der Anpassung des Sehens an veränderte äußere Bedingungen zeigt Wilhelm Schievelbusch in seiner Untersuchung der Wirkung des im 19. Jahrhundert neuen Fortbewegungsmittels Eisenbahn auf Reisende: die Entstehung des panoramatischen Blicks. (Wilhelm Schievelbusch, Die Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. FfM 1989) Eine verhältnismäßig geringe Variation dagegen weisen die Organe aus der ersten Natur in Bezug auf gesellschaftliche Veränderungen auf: Wie Hirn und Zellen in ihrer spezifischen Struktur arbeiten, ist seit Tausenden von Jahren nahezu unverändert. Die Eigenschaften des Menschen aus der Ersten Natur verhalten sich gerade in Bezug auf die Kategorie der Kontrolle widersprüchlich zu seinen Eigenschaften aus der Zweiten Natur.(15)

Ein anderes ´Oben und Unten`, das bei Kluge/Negt thematisiert wird, ist das kulturell-gesellschaftliche Organ der Hierarchie innerhalb des Individuums, in dessen physischem Zusammenhang das Gehirn und in dessen psychischem Zusammenhang die Ratio an höchster resp. oberster Stelle stehe. Der erwerbstätige Mensch, so sieht es aus, reguliert sich von oben nach unten: Er paßt seinen Lebensrythmus den Konditionen seines Arbeitsplatzes an, eliminiert Störungen wie Müdigkeit, Motivationslosigkeit, auch Krankheit, durch bewußte Selbstdisziplin bzw. Umverteilung der Konflikte. Tatsächlich ist dies nicht omnipotent möglich. Können Konflikte in der Hierarchie des psychischen Aufbaus durch Umverteilung nicht mehr gelöst werden, entäußern sie sich in der Physis. Die Dissoziation wird zugunsten der Zellen entschieden, äußert sich in psychosomatischer Krankheit, Kreislaufstörung, Kollaps. Das heißt, die Zellen entfalten ihre originäre Eigentätigkeit, aber nicht im Sinne des gesellschaftlichen Menschen. Es ist keine Regulation von oben nach unten mehr möglich.(16)

Die Zelle ist die einfachste Natureigenschaft des Menschen. Ihre komplex eigentätige Arbeitsweise ist als "soviel innen wie möglich, sowenig außen wie nötig" charakterisiert. Die Zelle schottet ihre Eigentätigkeit als einzelne zum ganzen Menschen und zur Außenwelt hin mehrfach ab. Die Kommandogewalt des Hirns erreicht allenfalls Zellverbände - die einzelne Zelle entzieht sich ihrer. Das Individuum kann bewußt nur Muskeln als Ganzes in Bewegung setzen, aber nicht die einzelne Zelle aus ihrer Eigenregulation lösen und kontrollieren.(17)

Die Erforschung der physischen Leistungsfähigkeit des Menschen bestätigt dies. Es existieren autonom geschützte Reserven der Arbeitskraft, die durch Willensanstrengung nicht abrufbar sind. Gemeint sind extraordinäre Kräfte wie beispielsweise die einer Mutter, deren Kind unter ein Auto geriet und die das drei Zentner schwere Fahrzeug hochhob und ihr Kind befreite. Wären diese Kräfte bewußt abrufbar, würden sie die materielle Gesamtproduktivität der Gesellschaft doch enorm steigern und vielleicht den "produktionsbedingten" Ersatz der menschlichen Arbeitskraft durch Maschinen an vielen Stellen überflüssig machen.

Unter Hitler wurden unter dem Stichwort "Verschrottung durch Arbeit" gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in Konzentrationslagern, die nicht in erster Linie dem Zweck der bloßen Vernichtung dienten, in großem Umfang Menschenexperimente zur Erforschung der freisetzbaren Arbeitskraft durchgeführt. Unter Extremstbedingungen, d. h. unter Bedingungen, die über die erfahrungsgemäße Leistungsgrenze weit hinausgingen, arbeiteten die Insassen, die Tunnelbau und Rüstungsarbeit betreiben mußten, sich buchstäblich zu Tode, ohne daß sie ihre wirkliche physiologische Leistungsfähigkeit ausgeschöpft hätten. Die Häftlinge starben hier nicht an der Rebellion der Zellen, sondern an deren Mißbrauch und Vernichtung.(18)

Die Zellverbände sind bis an die individuelle Leistungsgrenze der Kommandogewalt des Individuums und des Produktionsprozesses unterstellt. Bewußte Absicht und äußerer Zwang erreichen die Kraftreserven jenseits dieser Leistungsgrenze nicht. Es ist ein Zustand des ganzen Menschen, der den selbstregulierenden Schutz dieser Reserve durchbricht(19): Sie ist der Rationalität nicht zugänglich.

In diesem Zusammenhang ist Selbstregulierung etwas Spezifisches, das in einem organischen Ganzen einen Charakter annimmt, der sich zu jedem höher gearteten organischen Ganzen hermetisch, d. h. unübersetzbar eigen verhält und erst über Vermittlung und Chiffrenwechsel in Verbindung gerät.(20)

Das Hirn selbst, das komplexeste Organ unter den menschlichen Natureigenschaften arbeitet nicht nach den Prinzipien der Rationalität: "Weder arbeitet es von seiner Natur oder Einrichtung her logisch noch teleologisch (zielbezogen), noch theologisch (mythenbildend), noch macht es die gewaltigen Pausen wirklich, die es scheinbar macht, wenn es diszipliniert oder nach Arbeitsanweisung funktioniert. Es befindet sich vielmehr, gerade wenn es nach den Kriterien eines unternehmerisch geführten Betriebes "nichts tut" auf höchster Arbeitsstufe, während längerdauernder Zwang zum Nichtstun es lähmt. Wenn einer "gar nichts" denkt, zeigt das Enzephalogramm weißes Rauschen: hohe Aktivität."(21)

Seiner Art und Weise zu arbeiten nach ist das Gehirn Selbsttätigkeit an sich. Das Wie der Verarbeitung geschieht nach ihm immanenten spezifischen Gesetzen, die sich weder um die Außenwelt noch um das Übrige im Menschen kümmern, noch mit ihm kongruent sind. Erst wenn diese Eigentätigkeit von einigen Millionen von Synapsen gemeinsam gelebt wird, erweist es sich, daß es zugleich in der Lage ist, Funktionen zu erfüllen.(22)

Die Eigentätigkeit des Hirns wird an den Prozessen des Vergessens und Erinnerns deutlich: man kann auf Teile der Erinnerung durch Gedächtnistraining rational einwirken, dieses aber nicht in seiner Gänze kontrollieren. Ebensowenig ist das Vergessen bewußt steuerbar.(23)"Wir bemühen uns ja oft vergebens gerade gegen Erinnerungen mit größter Unlust." Sigm. Freud, Briefe an Wilhelm Fleiß. Aus den Anfängen der Psychoanalyse 1887-1907, Frankfurt am Main 1962, S. 153

Diese menschlichen Vermögen regulieren sich selbst nach eigenen Gesetzen. Selbstregulierung ist hier eine Ordnung, die weder nach den Gesetzen der Natur noch nach denen des Bewußtseins noch allein nach den Gesetzen des Unterbewußtseins stattfindet: Es ist eine kooperative Ordnung.

Selbstregulierung ist im Sinne Kluges und Negts ein auf Eigensinn basierendes natürliches Ordnungsprinzip, das sich zu einer auf Kommandogewalt basierenden, sich durch Leitungsnetze aufrechterhaltenden Ordnung diametral verhält. Selbstregulierung bedeutet im Sinne der Autoren die vollständige Anerkennung aller wirkenden Kräfte. Sie formulieren nicht einen einzigen Begriff dessen, sondern verschiedene, die jeweils eigenen Bewegungsgesetzen folgen. Auch das Verhältnis verschiedener Eigentätigkeiten zueinander, das Dazwischen ist Selbstregulierung. So wird die Selbstregulierung als Kategorie des Zusammenhanges bezeichnet: "Selbstregulierungen bilden (...) Gravitationsfelder, die von selbst die Tendenz haben, Zusammenhänge nach materieller Vollständigkeit nach eigenem Prinzip herzustellen. Gelungene Selbstregulierung - dies ist nicht Freilassung, sondern operativer Prozess - übt zersetzende Kraft aus auf Leitungsnetze. In dieser Hinsicht sind selbstregulierende Prozesse die lebendige Kritik an Anpassung und Kommandogewalt."(24) Der Begriff der Selbtregulierung wird nachvollziehbar als Kategorie des Zusammenhangs, indem vom Zusammenhang ausgehende jeweilige Eigentätigkeit bezeichnet wird. Auch als Kategorie des Zusammenhangs von lebendiger Arbeit, in dem die Aufmerksamkeit auf den darin enthaltenen subjektiven Eigensinn gerichtet wird,(25) ist der Begriff verstehbar.

"Als Kategorie des gesellschaftlichen Zusammenhanges schließlich richtet sie den Blick auf die eigentätigen Kräfte, die die Gravitation zwischen toter Arbeit und lebendigen Arbeiten immer dann ausmachen, wenn der Zusammenhang lebendiger Arbeit zu sich selbst findet, den Ausschlag gibt."

Der Kern, der im Kluge/Negtschen Begriff der Selbstregulierung steckt, ist die Kritik am Wahrheitsgehalt der Naturgesetzlichkeit der Kapital-Logik. Dies wird am Beispiel der vermeintlichen Selbstregulation von Nachfrage und Angebot bzw. Struktur des Marktes deutlich. Nicht die Nachfrage der Verbraucher bestimmt die zunehmende Automatisierung der Produktion, sondern Bilanzen von Unternehmen, die unter monetären Gesichtspunkten erstellt werden. Innerhalb der Vielzahl der Bedürfnisse, die das Individuum in der postmodernen Gesellschaft hat, läßt sich kaum noch differenzieren zwischen denen, die ihren Ursprung im Individuum selbst haben und denen, die von außen, vom Markt her Eingang in die Bedürfniswelt des Individuums finden.

Der Vorstellung einer Gesellschaft, die nicht auf den Prinzipien der Kapital-Logik basiert, liegt das optimistische Bild eines Menschen zugrunde, der seinen Vorteil nicht auf Kosten der Allgemeinheit durchsetzt. Dies Menschenbild, das im Gegensatz zur Kapital-Logik einer sozio-kulturellen Logik folgt, erscheint mir allerdings sehr idealistisch und wenig realistisch.
Der Schlüsselbegriff ist verinnerlichte, empfundene Verantwortlichkeit des Individuums für die Belange des es umgebenden gesellschaftlichen Gesamtzusammenhanges, die das Fundament einer der Kapital-Logik alternativen Gesellschaftsordnung wäre.

Ich war überrascht zu erfahren, daß folgende, sinnentfremdet zur Floskel geronnene Aussage ursprünglich dem Artikel 14, Absatz 2 der deutschen Verfassung entstammt: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."

Die Definition der gesellschaftlich reputierten Arbeit bestimmt das Verhältnis des Individuums zur Allgemeinheit und dadurch den Gebrauch seines Eigentums. Mit der Forderung nach Erweiterung, Vertiefung und Vervielfältigung der gesellschaftlich anerkannten Formen der Arbeit (bzw. des Arbeitsbegriffs, der an die bloße Mehrwertproduktion gekoppelt ist) wird ein weiterer Ansatz zu einer Alternative der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft geliefert, nämlich der der Etablierung von Arbeit, die direkt der Eigenproduktion und der Selbstverwirklichung dient: "Arbeit in Beziehungsverhältnissen, Pflege der Umwelt, der Künste, der Qualität des Zusammenlebens, also Tätigkeiten, die keinen Mehrwert schöpfen und nicht instrumentell rationalisierbar sind."(26)

Annariitta Grzonka 2001, Universität Bremen


(2) "System als Komplex von Elementen, die miteinander verbunden und voneinander abhängig sind und insofern eine strukturierte Ganzheit bilden; ein geordnetes Ganzes, dessen Teile nach bestimmten Regeln, Gesetzen oder Prinzipien ineinandergreifen." Aus: Anton Hügli / Poul Lübke (Hg.), Philosophielexikon. Hamburg 1997

(3) O. Negt / A. Kluge, Geschichte und Eigensinn. FfM 1981, Bd. 1, S. 41

  1. Ebd., S. 41

(6) Karl Marx, Aneignung der menschlichen Wirklichkeit aus: Nationalökonomie und Philosophie; in: Peter Sloterdijk (Hg.), Marx. Ausgewählt und vorgestellt von Oskar Negt. München 1998, S. 82 f

(7) Ebd. S. 79

(8) Geschichte und Eigensinn, Bd. 1, S. 41

(9) T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983. S. 255

(10) "Alle Menschen sind von natur aus frei (...) und besitzen (...) angeborene Rechte, nämlich das Recht auf Leben und Freiheit, dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten sowie Glück und Sicherheit anzustreben und zu erreichen."

(11) J.-J- Rousseau, Discours sur les Richesses, 1750

(12) Kluge/Negt sprechen auf S. 42 von der "fortgeschrittensten Krise der Gesellschaft"

(13) Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 42

(14) Vergleiche beispielsweise die Veränderungen in der visuellen Rezeption: Die Augen folgen dem Sinn des Habens, statt der Gegenstände selbst sehen sie den materiellen Wert, der ihnen inne ist. Eine andere Art der Anpassung des Sehens an veränderte äußere Bedingungen zeigt Wilhelm Schievelbusch in seiner Untersuchung der Wirkung des im 19. Jahrhundert neuen Fortbewegungsmittels Eisenbahn auf Reisende: die Entstehung des panoramatischen Blicks. (Wilhelm Schievelbusch, Die Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. FfM 1989)

(15) Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 42

(16) Ebd., S. 42f

(17) Ebd. S. 48

(18) Ebd. S. 43

(19) Ebd. S. 56

(20) Ebd. S. 48

(21) Ebd. S. 45

(22) Ebd. S. 46

(23) "Wir bemühen uns ja oft vergebens gerade gegen Erinnerungen mit größter Unlust." Sigm. Freud, Briefe an Wilhelm Fleiß. Aus den Anfängen der Psychoanalyse 1887-1907, Frankfurt am Main 1962, S. 153

(24) Kluge/Negt, Geschichte und Eigensinn, S. 65

(25) Ebd. S. 64

(26) Oskar Negt, Die Krise der Arbeitsgesellschaft in: Politik und Zeitgeschichte, B15/95, S. 9


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