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Prana - einen Monat nach der Tsunami-Flut


Die Lage einen Monat nach der Tsunami-Flut im Fischerdorf von Chinnamudaliyarchavadi an der Küste des Bengalischen Golfes im Süden Indiens

  1. Januar 2005

Die ZDF-Sendung 'Drehscheibe' am Freitag, 28. Januar 2005, 12:15 Uhr, hat bei einigen Zuschauern, wie ich aus einer ersten Reaktion entnehme, zu der weder von uns noch von der ZDF-Redaktion beabsichtigten Einschätzung geführt, das Prana-Hilfsprojekt sei bei seiner Tätigkeit im Dorf Chinnamudaliyarchavadi bei Pondicherry von seinen bisherigen Zielsetzungen abgerückt und würde statt dessen auf entfernteren Feldern aktiv. Dieser Eindruck ist sicherlich falsch. Die Versorgung der Menschen mit Nahrung und Lebensmitteln sowie mit dem zum Leben Nötigsten geht selbstverständlich weiter und wird wohl noch über längere Zeit fortgesetzt werden müssen. Die medizinische Versorgung der Bevölkerung ist in den naheliegenden Krankenhäusern gewährleistet. Zeitweilig entstehen Engpässe. Wo das Prana-Hilfsprojekt helfen kann, geschieht dies auch. So ist z.B. schon bald nach der Tsunami-Flutkatastrophe die Blutbank der örtlichen Krankenhäuser leer gewesen. Das Spenderblut wird selbstverständlich auch in Indien untersucht, ehe es bei einer Behandlung eingesetzt werden kann. Die Krankenhäuser verfügen nicht über die finanziellen Mittel, diese Untersuchung aus ihrem Etat zu bezahlen. Entgegen der hier üblichen Praxis, dass ein Spender für seine Hilfe wenn auch meist in geringen Umfang belohnt wird, muss der indische Spender ( jedenfalls in der Umgebung von Pondicherry) die Kosten für die Untersuchung tragen. Die Kosten sind für örtliche Verhältnisse hoch. Sie betragen knapp ein Viertel des Monatslohnes einer Lehrerin. Das hat viele potentielle Spender davon abgehalten, ihr Blut zu spenden. Mit der Übernahme der Untersuchungskosten und einer angemessenen Belohnung für die Blutspender aus den Mitteln des Prana-Projekts ist es geglückt, diesem Engpass abzuhelfen.

Ein stattlicher Betrag für den Aufbau der Hütten, den Erwerb von Netzen und Booten steht bereit. Augenblickliche Irritationen, die unten näher beschrieben werden, müssen sich erst legen. Dann werden die Gelder der Spender, die speziell für diese Zwecke gespendet haben, auch dazu verwendet. In der Zwischenzeit hilft das Prana-Projekt mit, die Härten der Übergangszeit zu lindern.


 

Eine beachtliche Anzahl von Spendern hat den Wunsch geäußert, dass ihre Unterstützung speziell den 'Tsunami-Kindern' helfen soll. Dies trifft sich mit dem Wunsch der Fischer von Chinnamudaliyarchavadi nach einer Förderschule, in der die Kinder neben dem Unterricht und einer besonderen Betreuung, um der Traumatisierung entgegenzuwirken, auch täglich mit warmen Mahlzeiten und Ergänzungsnahrung versorgt und medizinisch betreut werden. In Indien ist zwar der Schulbesuch in der staatlichen Schule die ersten sieben Jahre frei. Lehrmittelfreiheit kennt Indien jedoch nicht. So übernimmt das Prana-Projekt die Kosten für die Lehrmittel der Tsunami-Opfer sowie deren Schulgeld ab der achten Klasse. Gerade bei den Tsunami-Kindern ist es besonders wichtig, dass ihnen feste und verlässliche Strukturen geboten werden. Die Förderschule, die Schulspeisung und all die anderen Hilfen befreien die Kinder vor der sonst üblichen Kinderarbeit. Wir wissen, dass auch diese Hilfe im Sinn zahlreicher Spender ist. Das bisherige Spendenaufkommen zu diesem Zweck erlaubt es uns, mit Zuversicht auch hier tätig zu werden.

Was neben der von Anfang an aufgenommenen und ohne Einschränkung weitergeführten Hilfe in den letzten Tagen und Wochen besonders für die Kinder getan werden konnte und wie sich die Lage augenblicklich darstellt, entnehmen Sie bitte der folgenden Darstellung. Den Fischern ist im Augenblick das Meer zu unberechenbar. Sie haben über Jahrhunderte hinweg eine ambivalente Haltung gegenüber dem Meer ausgebildet. Einerseits ist es ihr Freund, denn es ermöglicht ihnen das Überleben. Andererseits war man ihm auch schicksalhaft ausgeliefert, denn immer wieder hat es einzelne Menschenleben gefordert. Jetzt hat aber das Meer auf einen Schlag ihre Existenz vernichtet. Die feindliche Seite des Meeres hat sich seit Menschengedenken nie so gezeigt. Die See hat in den Augen der Fischer die Freundschaft aufgekündigt. Sie möchten nicht mehr am Meer leben und trauen sich nicht, mit den Schiffen hinauszufahren. Außerdem ist das Meer immer noch so eng mit dem Tod verbunde -- damit auch die Tiere, die darin leben, so dass niemand Fische kaufen oder essen würde. Der Wunsch nach Booten und Netzen wir wohl noch eine Weile auf sich warten lassen.

Die indische Regierung hat beschlossen, den Küstenstreifen in einer Tiefe von 500 Metern zu evakuieren. Wird dieser Beschluss in die Tat umgesetzt, so müssen Fischer und die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft lebenden Dalit umziehen. Dazu benötigen sie Land, das sie nicht haben. Die Regierung hat versprochen, für sie Land zu kaufen. Wann sie das tun wird, hat sie nicht gesagt. So warten alle ab. Wo soll da gebaut werden.

Fazit: Im Augenblick kann man weder Hütten bzw. Häuser aufbauen noch Boote und Netze beschaffen. Sobald die Verhältnisse geklärt sind, muss zügig gehandelt werden.

Die Hauptleidtragenden sind im Augenblick die Kinder. Der Tsunami hat sie traumatisiert. Sie brauchen besondere Betreuung. In der Schule von Chinnamudaliyarchavadi sind 420 Kinder, für die es zwei Lehrerinnen gibt. Das Prana-Hilfsprojekt finanziert zwei Hilfslehrerinnen aus dem Dorf, die den lokalen Dialekt sprechen und mit den örtlichen Verhältnissen vertaut sind. Es hat den Kindern auch Hefte, Schreibgerät und neue Schuluniformen zur Verfügung gestellt. Die Schuluniformen sind für viele Kindern das einzige ordentliche Kleidungsstück.

Die Fischerdörfer sind einander durch Heiratsallianzen verbunden. In den Nachbardörfern leben die Verwandten. Bei einer Katastrophe oder auch nur bei einem schlechten Fang stehen die Dörfer sich gegenseitig bei. Über diese Heiratsverbindungen entsteht das soziale Sicherungssystem der Fischer. Der Tsunami hat auf einen Schlag alle Fischerdörfer zerstört. Das Sozialnetz ist zusammengebrochen.

Die Fischer beginnen umzudenken und fragen sich, was sie tun müssen, um sich künftig selbst besser helfen zu können. Ihre begabten Kinder sollen die weiterführenden Schulen besuchen, nach Möglichkeit studieren, Berufe lernen, mit denen sie ihnen später nützlich sein können. So setzen die Fischer ihre Hoffnung in eine unentgeltliche Förderschule in Chinnamudaliyarchavadi als Ergänzung zur Dorfschule, damit ihre Kinder später mit Erfolg die Tests bestehen können, die den Weg an weiterführende Schulen oder in die Berufsausbildung eröffnen. In der nahen Stadt Pondicherry gibt es solche Förderschulen als kommerzielle Unternehmen. Die Gebühren sind hoch und nur für Begüterte erschwinglich. Das Prana-Hilfsprojekt hat nun angefangen, eine solche Förderschule zunächst für 24 Kinder der ersten Schulklasse einzurichten. Die Kinder besuchen sie nach dem Schulunterricht, erhalten zuerst eine warme Mahlzeit sowie Früchte und Milch, für viele Kinder die erste Mahlzeit am Tag. Sieben Mitarbeiterinnen stehen dafür bereit. Einmal wöchentlich kommt ein Arzt in die Förderschule, damit die Gesunden gesund bleiben und die Kranken behandelt werden. Auch die Arztkosten werden aus Mitteln des Prana-Hilfsprojekts bezahlt. Am Freitag, dem 28. Januar 2005, findet das Einweihungsfest dieser Förderschule statt. Mit dem Fest wird symbolisch die schwerste Zeit unmittelbar nach der Tsunami-Flut abgeschlossen und der Blick nach vorn in eine bessere Zukunft gelenkt. In wenigen Monaten beginnt das neue Schuljahr. Dann erhalten auch die Kinder der neuen ersten Klasse Förderunterricht. Die Förderschule wird so von unten her aufgestockt, damit eines Tages ein volles Programm für alle Klassen bereitsteht. Bis zum siebten Schuljahr ist der Besuch öffentlicher Schulen frei. Lehrmittel müssen aber ohnehin selbst bezahlt werden. Ab der achten Klasse kommen Schulgebühren dazu. Das Prana-Hilfsprojekt übernimmt diese Schulgebühren, denn die Fischer können diesen Betrag nicht aufbringen und müssten sonst ihre Kinder aus der Schule nehmen. Die gesamten Kosten für diese Förderschule belaufen sich gegenwärtig auf 3000 Euro im Monat. Die Hilfe der Spender hat dies alles ermöglicht.

Die Fischer - und wir - sind sehr dankbar für die schon bisher ermunternde und wirksame Unterstützung, die wir erhalten haben. Mit Ihrer großzügigen Hilfe haben Sie dazu beigetragen, über die kontinuierlich weitergeführte Hilfe zur Selbsthilfe hinaus den langen Weg aufzunehmen, der nachhaltig die Lage der Fischer verbessern wird.

--Matthias Samuel Laubscher


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